5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Nadelstiche.
Ein kalter Schauer lief Émine über den Rücken, in ihren Ohren hörte sie das Blut im Rhythmus ihres Herzschlags rauschen. Es waren Empfindungen, die den Menschen vorbehalten sein sollten, körperliche Reaktionen, die Émine nur vom Hörensagen kannte. Panische Angst kroch in ihr hoch. Was hatte der Graf beabsichtigt, als er sie diesem Leid ausgesetzt hatte? Sie unterdrückte ein Schluchzen. Sie musste entkommen und nach Hause laufen. Émine war beseelt von dem Gedanken, diesen Ort des Grauens zu verlassen.
Gerade als sie sich nach einem Fluchtweg umsehen wollte, vernahm sie Gepolter und Gerumpel aus dem Inneren des Herrenhauses. Sie spähte abermals durch das Fenster. Die innere Tür zum Salon wurde aufgestoßen, und ein Mann stürzte in den Raum. Er hatte seine weiße Perücke unterwegs verloren, kurze schwarze Haarstoppel standen von seinem Schädel ab. Er trug nur einen Schuh, sein seidener Mantel war zerrissen. Durch die Tür, die er geöffnet hatte, drangen weitere Kampfgeräusche an Émines Ohren, diesmal lauter: Schreie, das metallische Geräusch von Schwertern, die aus ihren Scheiden gezogen wurden, und das Klirren von zersplitterndem Glas.
Émine trat einen Schritt vom Fenster zurück, als sie einen weiteren Mann sah, der dem ersten in den Salon gefolgt war. Er hatte wenig mit einem gewöhnlichen Menschen gemein. Seine Augen glühten rötlich, aus seinen Handrücken ragten klauenartige schwarze Klingen, die beinahe so lang wie sein Unterarm waren. Er überragte sein Opfer um mehr als eine Kopflänge, unter seinem Hemd spannten sich feste Muskelpakete. Jegliche Benommenheit war von ihr gewichen. Émine trat einen Schritt zur Seite, drehte sich um und presste sich mit dem Rücken gegen die gemauerte Wand. Obwohl sie nicht sah, was sich im Salon abspielte, wusste sie dennoch, dass das Ungeheuer den Mann getötet hatte. Sie vernahm einen gurgelnden Schrei. Von Panik erfüllt, kroch Émine unter die schmiedeeiserne Sitzbank, auf der sie nur Minuten zuvor mit Donoit Bornelle gesessen hatte. Ihr voluminöses Kleid behinderte sie dabei. Es zerriss an einer der ausladenden Ornamente der Bank, doch Émine kümmerte es nicht. Sie presste sich die Hände auf die Ohren und zählte ihre Herzschläge. Sie wollte nichts mehr von dem Grauen, das sich im Inneren des Hauses abspielte, mitbekommen.
4
Erst endlose Minuten später wagte Émine es, durch die Lücken ihrer vor ihr Gesicht gepressten Finger hindurchzuspähen und den Blick über den Garten schweifen zu lassen. Es war vollkommen still. Mittlerweile war die Nacht über Paris hereingebrochen, einzig die kleine Öllampe, die der Graf entzündet hatte, spendete spärliches Licht. Die Lampen im Salon waren erloschen, kein Lichtstrahl fiel mehr von innen durch das Fenster in den gläsernen Anbau. Émine kletterte aus ihrem Versteck unter der Bank hervor. Sie atmete tief ein und sog die stickige Luft, die sich unter dem Glasdach gestaut hatte, in ihre nunmehr menschlichen Lungen. Der schwere Geruch der Blüten schlug ihr auf den Magen, eine Reaktion, die sie als Eluvir nicht kannte. Émine ließ sich auf die Bank fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Ihre langen Haare lösten sich aus der Silberspange und glitten ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Die Blüte, die Bornelle ihr ins Haar gesteckt hatte, fiel lautlos zu Boden.
Das Geräusch eines Schlüssels, der in einem Schloss herumgedreht wurde, ließ Émine aufschrecken. Ihr Herz begann sogleich, in schnellem Rhythmus gegen ihre Rippen zu hämmern. Sie fuhr herum und starrte wie gebannt auf die Tür zum Salon, die sich langsam öffnete. Vor ihrem geistigen Auge sah Émine sich bereits gegen eines der klauenbewehrten Monster kämpfen, die im Haus des Grafen ein Blutbad angerichtet hatten, doch sie malte sich keine hohen Überlebenschancen aus.
Anstelle eines Ungeheuers erschien jedoch ein Mann auf der Türschwelle. Er trug ein abgetragenes Hemd und eine zerrissene Hose, sein dunkles Haar war streng zurückgekämmt. Seine schwarzen Augen zuckten nach rechts und links, ehe sein Blick auf Émine fiel. In sein Gesicht trat ein Ausdruck der Bestürzung. Die gerade Nase, das breite Kinn, die hohen Wangenknochen – Émine hatte ihn schon einmal gesehen. Er weckte Erinnerungen, die sie sich gezwungen hatte, zu vergessen. Er hatte sich verändert, und dennoch waren die Details seines markanten Gesichts in Émines Gedächtnis haften geblieben.
»Evrèl?« Ihre Stimme klang
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