5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Identität kannte.
Vor der Tür verabschiedete sich der Diener mit einem Kopfnicken, machte auf dem Absatz kehrt und ging den Flur entlang zurück zum Ausgang. Émine atmete einmal tief durch, bevor sie den Festsaal betrat.
Die Decke dieses Raumes war noch wesentlich höher als die im Flur. Émine befand sich in einem gigantischen Tanzsaal, dessen blank polierter Parkettboden im Schein der Kronleuchter glänzte. An den Wänden reihten sich dicht an dicht Ölgemälde aneinander, deren verzierte goldene Bilderrahmen von weit höherem Wert zu sein schienen als die Porträts, die sie zur Geltung bringen sollten. Auf einem Podest am Rand der Festgesellschaft hatte sich ein kleines Orchester eingefunden, das die Anwesenden mit sanfter Musik bei Laune hielt. In der Mitte des Saals zog ein Springbrunnen die Blicke der Gäste auf sich. Der Bildhauer hatte mit Liebe zum Detail das Abbild eines steigenden Rosses, aus dessen Maul Wasser mit kräftigem Strahl herausplätscherte, aus dem weißen Marmor gearbeitet. Alles in diesem Saal zeugte von Wohlstand und verschwenderischer Lebensweise. Émine war sich zwar stets der Tatsache bewusst gewesen, dass der Adel dem Luxus frönte, doch angesichts der wachsenden Armut der Bevölkerung empfand sie nichts als Bestürzung darüber. Wenn nicht eine größere Summe Geld als Spende für das Grüne Heim auf dem Spiel gestanden hätte, hätte Émine dieser Veranstaltung sogleich den Rücken gekehrt. Stattdessen ermahnte sie sich zur Ruhe und schritt auf den großen Brunnen in der Mitte des Saals zu. Sie musste sich einen Weg durch zahlreiche Edelmänner und Hofdamen bahnen, deren wallende Kleider beinahe den gesamten Saal ausfüllten. Émine bemerkte einige kritische Blicke seitens der Damen mit ihren hohen, weiß gepuderten Perücken, gab sich jedoch Mühe, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
Graf Bornelle, den Émine nur ein einziges Mal im Zuge einer Besichtigung im Grünen Heim gesehen hatte, stand neben dem Brunnen und lehnte lässig mit dem Ellenbogen auf dessen steinerner Umrandung. Émine fragte sich, wie Jacques je Bekanntschaft mit dem Adligen gemacht haben konnte, denn er behauptete, seit Jahren in Kontakt mit dem Grafen zu stehen. Jacques war ein einfacher Mann aus einer Kaufmannsfamilie gewesen, bevor er die Aufgabe als Mentor eines Eluvirs übernommen hatte. Émine nahm sich vor, den Grafen bei Gelegenheit danach zu fragen.
Als Donoit Bornelle Émine erblickte, straffte sich seine Haltung. Auf sein Gesicht trat ein breites Grinsen. »Émine, da seid Ihr ja. Ich habe sehnsüchtig Euer Kommen erwartet.« Er klatschte verzückt in die Hände und deutete eine Verbeugung an, als Émine vor ihm zum Stehen kam. Sie reichte ihm ihre Hand, und der Graf nahm sie vorsichtig in seine, als bestünde sie aus Glas. Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken.
»Es freut mich ebenfalls, Euch kennenzulernen, Graf.« Émine rang sich ein Lächeln ab, obwohl sie sich nicht wohlfühlte.
»Ihr seht bezaubernd aus. Das Kleid unterstreicht Eure Schönheit.« Bornelles kleine, graue Augen funkelten. Er strich sich mit der Hand über die akkurat frisierte, weiß gelockte Perücke. Sein Gehabe erinnerte Émine an einen Gockel, aber sie verbot sich diesen Gedanken sogleich. Das Grüne Heim hatte dem Comte de Bornelle viel zu verdanken.
»Ich bedanke mich für das königliche Geschenk. Ich trage Euer Kleid mit Freude.«
Bornelle nickte selbstzufrieden. »Wie gefällt Euch mein Haus?«
»Ich habe noch nicht viel davon gesehen, aber das Interieur dieses Saals zeugt von Eurem guten Geschmack.«
Bornelle machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist doch nichts Besonderes.« Er grinste breit und offenbarte eine Reihe weißer Zähne. »Ihr mögt doch Pflanzen, oder? Jacques hat mir erzählt, wie sehr Ihr Euch für die Natur interessiert.«
»Nichts liegt mir mehr am Herzen als die Natur und die Gesundheit der Menschen.«
Bornelle warf sich mit der Hand seine weiße Lockenpracht in den Nacken. »Vortrefflich! Hättet Ihr Interesse daran, meinen neu angelegten Garten zu besichtigen? Ich habe erst diesen Sommer einen gläsernen Anbau an meinem Privatsalon errichten lassen, von wo aus man einen vorzüglichen Blick auf die Parkanlage hat.«
Émine zögerte. Sie hegte wenig Interesse, mit dem Grafen allein zu sein, dennoch wollte und konnte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen. »Ich denke nicht, dass es schicklich wäre, Eure Gäste allein zu lassen«, sagte sie, als die Stille begann,
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