5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
getötet?«
Émine biss sich kurz auf die Unterlippe. Das Thema war ihr unangenehm. »Ich glaube, es waren Asraviri, die Kinder gefallener Engel«, sagte sie schließlich flüsternd. »Ich habe sie bisher für einen Mythos gehalten.« Sie hatte nie daran geglaubt, dass es neben den Kindern der Vier Heiligen noch solche der Abtrünnigen gab, doch es bestand kein Zweifel darüber, dass das Wesen, welches den Mann im Salon getötet hatte, weder Eluvir noch Mensch gewesen war.
Evrèl verfiel in Schweigen, sein Blick glitt in die Ferne. Er bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht, aber Émine kannte ihn auch nach all den Jahren noch zu gut, als dass er ihr etwas vormachen konnte. In seinem Kopf arbeitete es, das konnte sie deutlich sehen.
»Was weißt du sonst noch von den Asraviri?«, fragte er schließlich.
»Nicht viel. Nur dass man sagt, sie seien fehlerhaft und unvollkommen. Ihre Engelsgestalt soll furchterregend und schrecklich sein.«
Evrèl legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Selbst wenn die Geschichten wahr sind, zählt doch einzig, dass es dir gut geht. Mach dir keine Gedanken mehr darüber. Wir haben beide mit den Morden nichts zu tun.«
Émine griff nach seiner Hand, sie war warm und spendete Trost. Als abermals ein Schluchzen seinen Weg durch ihre Kehle suchte, zog Evrèl sie sanft zu sich heran. Sie bettete ihren Kopf auf seine Schulter. »Ich bin froh, dass du hier bist«, presste sie unter Tränen hervor. »Es muss eine Fügung des Schicksals sein. Weshalb hast du mir damals so wehgetan? Weshalb hast du dich nie gemeldet?«
Sie spürte, wie Evrèl schluckte und nach Worten rang. Die Fassade des unnahbaren Heißsporns begann zu bröckeln. Sie wusste, dass er tief in seinem Inneren immer ein anständiger Kerl gewesen war, auch wenn es ihn auf die schiefe Bahn verschlagen hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte er ihr mit brüchiger Stimme ins Ohr und drückte sie enger an seinen Körper.
»Es war so still ohne dich im Grünen Heim .« Émines Stimme klang dumpf und erstickt, denn sie sprach in sein Hemd hinein. »Bist du wegen Jacques nicht mehr gekommen? Er hat dich doch immer gemocht.«
»Ich weiß.« Er machte eine Pause und atmete schwer. »Aber ein Mensch und ein Eluvir – das geht einfach nicht. Ich musste es beenden, bevor es zu gefährlich geworden wäre.«
Émine löste sich von seiner Schulter und suchte seinen Blick. Alte, lange verdrängte Gefühle flammten in ihr auf wie Glut, die man neu entfachte. »Ich hätte für unsere Liebe gekämpft.«
Evrèl strich ihr eine Haarsträhne, die an ihrer tränennassen Wange klebte, hinter das Ohr. »Es hätte dich deine Unsterblichkeit gekostet. Niemals hätten die Engel das zugelassen.«
»Vielleicht hätte ich es in Kauf genommen.« Émine spürte jäh heißen Trotz in sich aufsteigen. Es waren Worte, die auf dem Boden der Verzweiflung gekeimt waren.
Evrèl wischte mit dem Zeigefinger eine Träne von ihrer Unterlippe, dann glitt seine Hand ihren Hals hinab. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf und bescherten ihr einen wohligen Schauer.
»Der menschliche Körper, in dem du jetzt steckst, steht dir nicht gut zu Gesicht. Er ist deiner nicht würdig«, sagte er, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass sie ihre Engelsgestalt verloren hatte.
»Bornelle hat mich in diesen Körper gesperrt«, sagte sie. »Ich hätte es ahnen müssen.« Sie löste sich von Evrèl und deutete auf den Tisch, auf dem noch immer die sonderbaren Karten verstreut lagen. »Siehst du dieses Kartenspiel? Bornelle ist im Bunde mit böser Magie. Weshalb nur hat Jacques es nie bemerkt? Er kannte den Grafen. Er war es, der dieses Treffen arrangiert hat.«
Evrèl ließ seinen Blick über die Karten schweifen und riss dann jäh den Kopf herum, als müsse er düstere Gedanken abschütteln. »Der Graf war verrückt. Ein Fanatiker, der dich besitzen wollte, weiter nichts.«
Émine nickte. Vermutlich hatte er Recht. »Ich muss zurück ins Grüne Heim und die Vier Heiligen anrufen, damit sie mir meinen alten Körper zurückgeben können.« Mit einem Mal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als diesen Ort des Grauens zu verlassen. Immerhin befand sie sich noch immer auf dem Anwesen eines Verrückten, dessen Leiche irgendwo dort im Haus lag. Sie wandte sich ab und machte einen Schritt auf die Tür zu, aber Evrèl bekam ihren Ärmel zu fassen und hielt sie zurück. »Geh nicht. Bitte.« In seiner Stimme lag ein Flehen, das ganz und gar nicht zu ihm passen wollte.
Weitere Kostenlose Bücher