5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
peinlich zu werden.
Bornelle schüttelte den Kopf. »Sie werden es verschmerzen, sich ein paar Minuten ohne mich zu amüsieren. Ihr seid doch heute mein Ehrengast, oder etwa nicht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, bot er Émine seinen Arm an. Da sie den Grafen nicht verärgern wollte, legte sie ihre Hand in seine Armbeuge und ließ sich von ihm durch den Saal führen.
Bornelle geleitete sie durch einen Flur in einen Nebenraum, der nicht minder prächtig ausgestattet war als der Festsaal. In der Mitte des Zimmers stand ein mit rotem Samt überzogenes Canapé nebst passender Fußbank. Ein imposanter Kamin, der mit seinen detailreichen Verzierungen die Blicke auf sich zog, dominierte den Rest des Raumes. Durch ein riesiges Glasfenster fiel das letzte Licht des sterbenden Tages in den Salon. Bornelle deutete auf eine Tür neben dem Fenster. »Dahinter befindet sich der Anbau, von dem ich gesprochen habe«, sagte er. »Er ist komplett aus Glas, und selbst im Winter gedeihen dort die prächtigsten Blumen.« Er öffnete die Tür und bedeutete Émine, hinaus in seinen gläsernen Garten zu treten.
Bornelle hatte mit keinem Wort übertrieben. Émine bestaunte mit geweiteten Augen das Innere des geräumigen Glashauses. Eindrucksvoll verzierte Tische und Stühle wechselten sich mit Pflanzkübeln ab, die über den gesamten Raum verteilt waren und die herrlichsten Blumen beherbergten. Ein betörender Duft schwängerte die Luft.
»Das ist wunderschön«, sagte sie und vergaß ihren Unmut. Sie beugte sich zu einer strauchförmig wachsenden Pflanze hinab, die ihr bis an die Hüfte reichte und mit kelchförmigen Blüten gespickt war. Sie strich mit den Fingern über die ledrigen Blätter.
» Ihr seid wunderschön, Madame.« Bornelle pflückte eine der Blüten vom Strauch und steckte sie behutsam in Émines Haar. Er war ihr ungebührlich nahe gekommen. Ihr stieg der Duft seines Parfums in die Nase. Für die Dauer eines Herzschlags dachte sie daran, ihre menschliche Gestalt aufzugeben, um dem Grafen die flüchtige Berührung zu verweigern, entschied sich dann jedoch dagegen. Es wäre ihr kindisch vorgekommen, zumal Donoit Bornelle ein langjähriger Freund von Jacques war. Dennoch war es ihr unangenehm, dass der Graf gegen jede Form von Etikette verstieß.
»Ich bin nicht halb so schön wie das Kleid, das Ihr mir geschenkt habt«, sagte sie schließlich, als Bornelle sie in Erwartung einer Reaktion ansah.
»Wunderschön und noch dazu bescheiden, très bien! Was könnte sich ein Mann mehr wünschen?«
Émine ließ seine Frage im Raum stehen und ging zu einem der schmiedeeisernen Tische herüber. Darauf lagen eine Reihe Spielkarten verstreut, die jedoch ein anderes als das übliche Blatt zeigten. Sie waren mit detailgetreuen Zeichnungen von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen versehen. Sie nahm eine Karte auf und betrachtete diese. Darauf waren zwei Männer abgebildet, die sich gegenseitig ein Rapier in die Brust stießen. »Was ist das?«, fragte sie.
Bornelle kam einen Schritt näher und spähte über Émines Schulter hinweg auf die Karte. Wieder hüllte sie der Geruch seines Parfums ein. Der Graf stieß ein amüsiertes Lachen aus. »Ich habe eine Leidenschaft für die Zauberei.«
Émine legte die Karte zurück auf den Tisch. »Ich habe in meinem Leben erst zwei Mal echte Magie erlebt, abgesehen von meiner eigenen natürlich. Ich rate Euch zur Vorsicht.«
»Seid unbesorgt, ich weiß stets, was ich tue.« Ein undeutbares Lächeln huschte über die Züge des Grafen.
Eine Weile lang verharrten sie in Schweigen. Émine betrachtete die untergehende Sonne durch die Glasfront des Wintergartens. Als die letzten Strahlen orangeroten Lichts erstarben, entzündete der Graf eine Öllampe, die in einer Halterung an der gemauerten Seite des Anbaus hing.
»Wollen wir uns nicht noch für ein paar Minuten setzen, ehe wir zurückkehren in den Zirkus der Aristokraten?« Bornelle deutete auf eine Bank, deren hohe Rückenlehne mit Kletterpflanzen bewachsen war. In Ermangelung einer Antwort nickte Émine stumm. Sie hatte schon beinahe vergessen, dass sie zu einer Soiree geladen war, und bei dem Gedanken an den überfüllten Festsaal erschien ihr die Aussicht auf einen weiteren Moment der Ruhe in diesem herrlichen Garten durchaus verlockend.
Sie ließen sich auf der Bank nieder, was Émine mit ihrem üppigen Kleid nicht allzu leichtfiel. Der Graf lachte amüsiert und half ihr dabei, die aufwendig gefaltete Contouche so zu sortieren,
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