5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
»Komm lieber mit mir.«
Émine rang nach Worten. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass der Mann, den sie jahrelang heimlich geliebt hatte und der von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden war, sie nun darum anflehte, mit ihm zu kommen. Es rührte und schmerzte sie, diese Worte aus seinem Mund zu hören.
»Lass uns noch ein wenig hierbleiben«, fügte Evrèl hinzu, ein undeutbarer Blick flammte in seinen Augen auf. »Ich möchte den Moment unserer Ebenbürtigkeit ein einziges Mal mit dir genießen, von Mensch zu Mensch. Sei es mir auch nicht beschieden, einen Eluvir zu lieben, so kann ich doch einen Menschen lieben.«
Argwohn regte sich in ihr. Evrèl hatte sie im Stich gelassen und ihr das Herz gebrochen, nun tauchte er wie aus dem Nichts wieder auf und forderte sie auf, genau das zu tun, was er ihr all die Jahre über verwehrt hatte.
»Die Gendarmen werden bald hier sein«, sagte sie in Ermangelung einer passenden Antwort, denn Evrèls offen formulierte Forderung verunsicherte sie. Etwas an ihm war anders. Sie kannte ihn als einen verschlossenen Menschen, dem es schwerfiel, Gefühle zuzulassen, geschweige denn darüber zu sprechen. Sie spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Die Art, wie er nervös um sich blickte, oder die Mundwinkel, die gelegentlich zuckten, deuteten auf eine tiefe innere Anspannung hin.
Evrèl schüttelte den Kopf. »Das Verschwinden der Adligen wird bis morgen niemandem auffallen. Die Attentäter sind sehr gründlich vorgegangen. Niemand hat überlebt.«
Bevor Émine etwas erwidern konnte, hatte er sie erneut an sich gezogen und ihren Protest mit einem leidenschaftlichen Kuss erstickt. Das Gefühl, ihn als Mensch zu küssen, war tiefer und intensiver als jenes, das ein Eluvir empfunden hätte. Sie wollte ihn von sich stoßen, doch ihr Körper fühlte sich an, als seien keine Muskeln mehr darin. Sie sank in seine Arme, während seine Zunge sich in ihren Mund drängte. Seine kräftigen Arme hielten sie fest an seine breite Brust gepresst. Sie atmete seinen Duft ein, männlich und herb.
Émine fühlte sich außerstande, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, und das nicht nur aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit. Sie genoss das aufkeimende Verlangen, das in ihr aufstieg. Das schlechte Gewissen nagte und pochte in ihrem Inneren, denn sie befanden sich nach wie vor in einem Haus, in dem nur Minuten zuvor Menschen auf bestialische Art und Weise gestorben waren. Zudem hatte der Graf Émine in einen zerfallenden Körper gesperrt, dessen Zeit wie Sand in einer Uhr zerrann. Sie ängstigte sich vor der Sterblichkeit, und doch bescherte sie ihr intensivere Empfindungen, als sie sie je für möglich gehalten hatte. Als Tochter eines Engels hätte sie immun sein müssen gegen menschliche Gefühle wie Liebe oder Hass, und dennoch hatte sie sich seinerzeit unsterblich in Evrèl verliebt. Ihre damaligen Gefühle waren jedoch nur ein blasser Schatten dessen gewesen, was Evrèls Berührungen heute, da sie ein Mensch war, in ihr auslösten. Beinahe bedauerte sie, nicht schon vor Jahren auf ihre Unsterblichkeit verzichtet zu haben. Kaum hatte er sich eingeschlichen, verbot Émine sich sogleich diesen Gedanken. Sie musste an all die Menschen denken, die ins Grüne Heim kamen, um ihre Heilkünste in Anspruch zu nehmen. Sie durfte niemals ihre eigenen Wünsche über die der Bedürftigen stellen.
Evrèls Mund löste sich von ihren Lippen, und er sah mit sanften, aber begierigen Blicken zu ihr hinab. »Es tut mir leid«, hauchte er. »Jahrzehntelang habe ich mich von dir und dem Grünen Heim ferngehalten, weil ich genau wusste, dass ich meine Selbstbeherrschung verlieren würde, sollte ich dich noch einmal sehen. Und genau das ist jetzt geschehen.«
Émine führte ihre Hand zu seinem Gesicht und strich zärtlich die Linien seiner Brauen nach. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. »Ich habe dich all die Jahre geliebt, doch ich hatte keine Vorstellung davon, wie intensiv die Gefühle eines Menschen sein können.« Sie bettete ihre tränennasse Wange in seine Halsbeuge. Mit einem Mal war der Wunsch, unverzüglich ins Grüne Heim zurückzukehren, verblasst wie Tinte in der Sonne. »Ich weiß, dass es falsch ist, und dennoch möchte ich nicht weiterleben, ohne dich einmal so gespürt zu haben, wie nur ein Sterblicher es kann«, schluchzte sie. »Sollen die Engel mich bestrafen, doch auch ich vermag mich nicht zurückzuhalten.«
Evrèls Griff um ihre Taille wurde noch ein wenig
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