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5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)

5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)

Titel: 5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: e-book LYX
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dünn und kraftlos.
    Zunächst zeigte er keine Reaktion, starrte sie nur an, die Türklinke noch immer in der Hand. Sein Gesicht war zu einer unbewegten Maske erstarrt.
    »Evrèl, bist du es?« Émine wiederholte ihre Frage, diesmal lauter. Sie erhob sich von der Bank und machte einen Schritt auf ihn zu. Ein Schreck durchfuhr sie. Aus der Nähe wirkte seine Erscheinung wie das Echo eines entbehrungsreichen Lebens. Er war gealtert, seine Augen wirkten müde. Obwohl er sich noch immer nicht rührte, glitzerte eine Träne in seinem Augenwinkel.
    Émine spürte eine Vielzahl von Emotionen in sich aufsteigen. Freude, Verunsicherung, Angst und Sehnsucht wetteiferten miteinander um den Vorrang. Tränen flossen nun ungehindert ihre Wangen hinab, sammelten sich an ihrem Kinn und tropften in den Ausschnitt ihres Kleides. Sie kam noch einen Schritt näher, und als sie den vertrauten Duft seiner Haut einsog, konnte sie nicht anders, als sich in seine Arme zu werfen. Erst jetzt erwachte Evrèl aus seiner Starre. Er umfasste zögerlich ihre Taille, ehe er sie sanft, aber bestimmt auf Armlänge von sich wegschob.
    Émine hob den Kopf und sah in seine schwarzen Augen, die ihren Blick nun voller Trauer und Seelenpein erwiderten. »Ich habe all die Jahre geglaubt, du seiest tot«, stieß Émine zwischen zwei Schluchzern hervor.
    Evrèl holte tief Luft und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder. Erst nachdem er sich einmal mit der Hand durch die Haare gestrichen und ein weiteres Mal geseufzt hatte, sagte er schließlich: »Ich hatte meine Gründe, mich von dir fernzuhalten.« Er hatte noch immer diese angenehme, dunkle Stimme, die Émine an das Schnurren einer Katze erinnerte.
    Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Wo bist du gewesen? Was tust du hier?«
    Evrèl machte einen Schritt in den Raum hinein und sah sich um. »Ich war zu einer Soiree geladen.«
    Émine warf ihm einen skeptischen Blick zu. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Ich weiß, dass ich nicht so aussehe, als verkehrte ich oft in diesen Kreisen. Um ehrlich zu sein, bin ich weit davon entfernt, ein geregeltes Leben zu führen. Ich handle mit einigen Substanzen, die sich bei den Aristokraten großer Beliebtheit erfreuen. Auch Bornelle zählte ich zu meinen Kunden.«
    Émine verstand, was er meinte, und es versetzte ihr einen Stich. Evrèl war einst ein lieber kleiner Junge gewesen. Sie kannte ihn seit dem Tag, an dem er das erste Mal mit einem gebrochenen Arm ins Grüne Heim gekommen war, um sich von ihr behandeln zu lassen. Damals war er fünf Jahre alt gewesen. Der Straßenjunge, der ohne Eltern aufwuchs, war zu einem regelmäßigen Gast geworden, und Émine hatte lange mit dem Gedanken gespielt, ihn zu ihrem Mentor ausbilden zu lassen – bis aus dem flatterhaften Jungen mit den Jahren ein attraktiver junger Mann geworden war. Es schmerzte sie, ihn in dieser Verfassung zu sehen. Evrèl war der einzige Mensch, dem sie nach der Behandlung nicht die Erinnerung an sie genommen hatte. Sie hatte ihn geliebt …
    Sie zwang sich, mit den Gedanken in die Wirklichkeit zurückzukehren, obwohl ihr die Umstände nicht gefielen. »Ich habe einen Mann im Salon sterben sehen«, presste sie hervor, abermals mit den Tränen ringend. »Du musst ihn gesehen haben, als du herübergekommen bist. Seine Leiche liegt auf dem Teppich.«
    Evrèl zuckte die Achseln. »Alle Gäste sind tot«, sagte er in einem Tonfall, als spreche er über das Wetter. »Ich kam erst später dazu. Die Vordertür stand offen … «
    »Aber weshalb tut jemand so etwas Grausames?« Émines Stimme brach. Sie wünschte sich nichts mehr, als von Evrèl in die Arme geschlossen zu werden, doch er wahrte den Abstand zwischen ihnen. Sie respektierte seinen Wunsch.
    »Der Graf zählte viele Leute zu seinen Feinden«, sagte Evrèl und machte eine beschwichtigende Geste, als wolle er ein verängstigtes Tier beruhigen. Er vermittelte den Eindruck, im Laufe seines Lebens schon viele Leichen gesehen zu haben. Es schien ihn nicht im Geringsten zu erschüttern.
    »Diese Feinde waren keine gewöhnlichen Menschen«, sagte Émine. »Ich habe gesehen, wie ihnen lange Krallen aus den Händen gewachsen sind.« Sie senkte die Stimme, als könne sie die Dämonen durch ihre Worte heraufbeschwören. »Ich habe von solchen Wesen gehört, aber nie zuvor eines gesehen.«
    Evrèl zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Und was hat die Festgesellschaft deiner Meinung nach

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