5 Tage im Sommer
hinunter nach rechts, und sagen Sie Nancy bei der Anmeldung, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Ihr harter roter Fingernagel tippte auf das Namensschild unter ihrer linken Schulter: Margaret Nelson . »Ich bin in zwanzig Minuten wieder zurück. Wir haben Ausgang und machen einen Spaziergang über das Gelände.« Sie lächelte ihrer Mannschaft im Fahrstuhl zu, und die Patienten nickten und zappelten in Erwartung ihres Ausflugs.
Nancy an der Anmeldung würdigte sie kaum eines Blickes. Als sie hörte, dass Margaret Nelson auf dem Weg in die Außenwelt ihren Besuch genehmigt hatte, zuckte sie die Achseln, nahm einen Schlüssel von einem Brett, das lediglich mit Nummern gekennzeichnet war, und nuschelte: »Folgen Sie mir.«
Sie wurden zu Zimmer Nummer 513 geführt. Nancy schloss auf, öffnete die Tür sperrangelweit und ging davon.
In einem verschlissenen grünen Sessel in einer Ecke des Zimmers saß die Frau, die einmal Janice Winfrey gewesen war. Ihr Gesicht war zum Fenster gerichtet, aber ihre Miene war ausdruckslos. Sie schien weder den Sommernachmittag wahrzunehmen noch die anderen Patienten, die sich auf dem Rasen ergingen, oder die Truppe ihrer Nachbarn vom fünften Stock, die das Glück hatten, mit Margaret Nelson als Führerin das Gelände durchstreifen zu dürfen. Was Janice Winfrey vor sich sah, spielte sich nicht vor ihren Augen ab und geschah auch nicht im gegenwärtigen Moment.
Sie war eine kleine, feingliedrige Frau mit hellbraunem Teint. Ihr Haar war kurz rasiert, sodass sie beinahe wie eine Gefängnisinsassin aussah. Gekleidet war sie in ein Hauskleid in hellem Orange und mit Blumenmuster, wie man es in jedem Billigladen kaufen konnte, weit entfernt von dem, was sie bestimmt in besseren Tagen getragen hatte: ein maßgeschneidertes Kleid, stellte sich Geary vor, hellblau, mit einer Perlenkette um den zarten Hals.
Amy sprach sie als Erste an: »Mrs. Winfrey?«
Janice reagierte nicht.
»Mrs. Winfrey, ich bin Amy Cardoza. Und das hier ist Dr. Geary.«
»John«, sagte er. »Dürfen wir reinkommen?«
Sie hätte eine Wachsstatue sein können.
Geary hatte solche Menschen schon früher gesehen. Sie befanden sich in einer Art Wachkoma, das sie aus ihrem Geist ausschloss, aber in ihrem Schmerz fesselte. Es war wie das Gegenteil einer Amnesie: Statt zu vergessen, verloren sie sich in einer Flut der Erinnerung. Ein Schleusentor ließ sich nicht mehr schließen, und sie ertranken in ihrem Trauma. Es musste die Hölle auf Erden sein, und Geary konnte sich nur ansatzweise eine Vorstellung davon machen.
Dennoch musste er versuchen, zu ihr durchzudringen. Er näherte sich ganz langsam und ging vor ihr auf die Knie, um mit dem Kopf auf ihrer Höhe zu sein. Dann sah er ihr in die Augen. Sie waren wie Murmeln. Ihre Haut war überzogen mit zarten Rissen, die mit zunehmendem Alter zu Furchen werden würden. Sie war erst in den Dreißigern, aber sie wirkte uralt. Amy stand im Hintergrund und sah ihnen zu. Als Geary die Hand ausstreckte, konnte er aus dem Augenwinkel sehen, dass Amy den Kopf schüttelte. Er führte trotzdem seine Absicht aus und berührte Janice’ Hand, so sanft es ging.
Janice blinzelte, nur einmal, aber es war eine Reaktion.
Amy trat einen Schritt näher.
Geary atmete tief durch und beobachtete die Augen. »Wir hatten gehofft, mit Ihnen sprechen zu können«, sagte er. »Über Chance.«
Janice’ Augen schlossen sich abrupt. Ihre Lippen wurden starr.
»Lassen Sie«, flüsterte Amy. »Sie machen ihr Angst.«
Geary zog seine Hand zurück, blieb ihr aber nahe und kniete weiterhin vor ihr.
»Es gibt da noch eine Frau«, flüsterte Geary, »eine Mutter wie Sie. Sie ist verschwunden. Sie hat Kinder.«
Janice war in ihren alten Zustand zurückgefallen. Es schien kein Funken Leben in ihr zu sein.
Geary spürte, wie sich Amys Hand auf seine Schulter legte. Ihre Augen waren braun wie die von Janice Winfrey, aber sie waren lebendig. Eine Zärtlichkeit sprach aus ihrem Gesicht, die ihn verwirrte, und er wusste nicht, warum. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie ihm bedeuten aufzuhören.
»Sie will ja«, sagte Geary, »aber sie kann nicht.«
Margaret Nelson erschien in der Tür. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie?«, sagte sie. »Nichts. Sie ist schon fast sieben Jahre hier, und sie hat nie ein Wort gesagt, nicht ein einziges Mal.«
Die Patienten, die sie auf dem Weg hinaus sahen, die sich hin und her wiegten, schaukelten und sich mit den Ausgeburten ihrer Phantasie
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