Nuancen der Lust (German Edition)
Ferngesteuert
Lilly Grünberg
Es war eine dieser Freundschaften, die gute Chancen haben, ein Leben lang zu bestehen. Gemeinsam hatten sie die ersten sexuellen Erlebnisse, das Ende der Schulzeit, die Entwicklung ins Erwachsenenalter und die Wahl eines Berufes überstanden. Es gab nichts, worüber sie nicht gesprochen hätten.
Und auch jetzt schafften es Marvin und Steffen, sich zweimal im Monat bei ihrem Lieblingsitaliener zu treffen. Ganz ohne Frauen, nur sie beide allein. Ein Ritual, das mehr als alles andere ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden war und die wechselnden Liebesbeziehungen überdauert hatte.
Die Plätze im
Il Gusto
waren auf drei unterschiedlich große, durch Rundbogen miteinander verbundene Räume verteilt und strahlten viel Gemütlichkeit aus. Der in Wischtechnik angefertigte ockerfarbene Anstrich war angenehm für die Augen und beruhigte nach einem stressigen Tag das Gemüt. Die Fotodrucke auf Leinwandimitat, die an den Wänden hingen, zeigten typisch italienische Landschaften und bewegten sich an der Grenze zum Kitsch. Auf den Fensterbrettern standeneinige hübsch blühende Pflanzen, dazwischen Töpfe mit Gewürzen, die einen angenehmen Duft verbreiteten und eine Ahnung davon vermittelten, womit Koch Giulio seine Gerichte verfeinerte.
Einen Tisch, an dem die beiden Freunde sich ungestört unterhalten konnten, fanden sie immer. Das Lokal war zwar auch wochentags gut besucht, jedoch nicht bis auf den letzten Platz besetzt.
Es wurden stets lange Abende, denn der Gesprächsstoff ging ihnen nie aus. Ihre Freundschaft begann in der fünften Klasse, als Marvin von einem älteren Jungen verprügelt wurde und Steffen ihm zu Hilfe eilte. Seither hatte ihre Freundschaft viel ausgehalten und sie kannten einander beinahe so gut wie sich selbst. Davon waren sie überzeugt, bis zu diesem speziellen Abend …
Mit einer herzlichen Umarmung, wie sie sonst nur unter Südländern üblich ist, drückte Marvin den Freund an sich, dann nahmen sie Platz.
»Alles klar bei dir? Was gibt’s Neues?«, begann er das Gespräch und ließ seine Augen über das Tagesangebot fliegen.
»Na ja, zu viel Arbeit, was sonst«, seufzte Steffen. »Du weißt ja, das Leben könnte so schön sein, wenn man nicht Geld verdienen müsste. Aber bring den Kunden mal bei, nicht alle gleichzeitig mit ihren Aufträgen zu kommen. Zur Zeit nervt uns wieder dieser …«
Ihr Gespräch wurde jäh von Marina unterbrochen, der hübschen Bedienung, die ihre Bestellung aufnahm und wie jedes Mal versuchte, mit Steffen zu flirten. Ihre dunklen, mit einem Kajal betonten Kulleraugen ruhten länger auf seinen weich geschwungenen Lippen als nötig war. Ihr kirschroter Mund hauchte einen Kuss in seine Richtung, wohingegen sie Marvin nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, als notwendig war. Dass Steffen auf ihre Luftküsse nie reagierte, schien sie nicht abzuschrecken.
Was Frauen betraf, kamen sich die Männer nicht in die Quere, dafür waren sie zu unterschiedliche Typen. Während Marvin nicht nur als Arbeitskleidung elegante Anzüge bevorzugte, sondern auch privat welche trug, gab sich Steffen vorwiegend leger und wirkte eher wie ein großer Junge. Wie meistens waren seine dunkelblonden Haare auch heute völlig zerzaust, als hätte sie ein Sturm durcheinander gewirbelt.
»Eine Flasche Bardolino, zweimal Tagliatelle con …, na du weißt schon, ich kann das eh nicht aussprechen. Und zwei Insalata Mista.« Die Empfehlung des Tages hatte sich im Laufe der Zeit als gute Wahl herausgestellt. Man musste nicht lange warten, bis das Essen serviert wurde und bis jetzt hatte es nie einen Grund zur Klage gegeben.
»Du solltest mal mit ihr ausgehen«, meinte Marvin grinsend, nachdem Marina mit schwingenden Hüften und einem letzten schmachtenden Blick auf Steffen zur Theke zurückkehrte.
»Mit Marina? Oh nein, das meinst du nicht ernst.« Marina war gefühlte zwanzig Jahre älter als er und hatte zwei Kinder im Teenageralter, auch wenn sie dafür ziemlich gut aussah.
»Allmählich wird es Zeit, dass wir beide wieder eine feste Partnerin finden«, meinte Marvin nachdenklich. »Dieses Alleinebleiben taugt auf die Dauer nichts. Ich merke jedenfalls, dass mich das irgendwie unzufrieden und reizbar macht.«
Steffen zuckte mit den Schultern. »Und unser Arbeitspensum verträgt sich nicht mit den Wünschen der Frauen. Das weißt du doch. Zuerst tolerieren sie deine Überstunden, weil sie sich lieber mit einem erfolgreichen Liebhaber schmücken als einem Faulpelz.
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