54 - Deutsche Helden, Deutsche Herzen 06 - Die Kosaken
die Ankunft des Zuges, mit dem seine Schwester Lina kommen sollte, zu erwarten.
Er trat in das Zimmer, das ausschließlich für die Polizei reserviert war. Von da aus konnte er den ganzen Perron überblicken, ohne selbst beobachtet zu werden.
Da sah er Sam, den Dicken, stehen und ließ ihn zu sich hereinholen.
„Sie wollen Ihre Frau abholen?“ fragte er ihn.
„Meine Braut!“ verbesserte Sam.
„Egal! Da sollten Sie sich nicht da draußen hinstellen. Wenn Schubert Sie erblickt, kann der ganze Plan zuschanden werden.“
„Ich möchte doch wissen, wie?“
Der Polizist hielt sich für pfiffig, und Sam war auch der Ansicht, daß er kein Dummkopf sei. So sahen sie sich ein Weilchen lächelnd an; dann erklärte der erstere:
„Sie werden mit ihr von dem Agenten gesehen werden. Sie werden sie doch empfangen?“
„Fällt mir nicht ein. Ich bin nicht so dumm, wie Sie denken. Nicht die Polizisten allein sind pfiffig. Ich sage Ihnen, daß ich aus Sibirien komme und meine Auguste seit achtzehn Monaten nicht gesehen habe. Wir sehnen uns nach einander, als ob wir erst achtzehn Jahre alt wären, aber wenn Auguste aussteigt und mich auf dem Peron stehen sieht, so geht sie an mir vorüber wie an einem wildfremden Menschen.“
„Das schrieben Sie ihr wohl?“
„Dazu gab es keine Zeit. Ich habe es ihr telegraphiert. Ich sage Ihnen, es ist doch herrlich, wenn man verliebt ist und auf dem Telegraphen so ein bißchen hin und her klappern kann. Nichts geht über dieses Vergnügen.“
Das Glockenzeichen ertönte, und Sam eilte hinaus. Da stand die gute Frau Berthold in ihrer Seidenmantille und blickte mit hellen, erwartungsvollen Augen dem Zug entgegen.
Der Zug hielt, die Türen wurden geöffnet, und die Passagiere stiegen aus. Leicht wie ein Reh kam Lina aus ihrem Coupé gehüpft.
„Tante, meine liebe, gute Tante!“ rief sie voller Freude und eilte auf die Alte zu. Sie schlang die Arme um sie und küßte sie zärtlich auf Mund und Wangen.
Die Tante war vor Entzücken einen Augenblick lang sprachlos. So hübsch, so schön hatte sie sich die neue Nichte denn doch nicht vorstellen können.
„Mein Gott“, stammelte sie, „Sie sind, Sie sind, Sie –“
„Pst!“ flüsterte Lina schnell. „Da kommt Schubert. Nimm dich zusammen, Tantchen!“
Das gab der guten Frau die Fassung wieder. Sie zog das schöne Mädchen an sich und rief stahlenden Auges:
„Lina, mein Nichtchen, welche Freude, nein, welche Freude für mich!“
Schubert hatte mittlerweile seine Pakete dem Portier zum Aufheben gegeben und kann jetzt auch herbei.
Nach kurzer Begrüßung verabschiedeten sich die Damen, während sich der Agent direkten Weges nach dem Meierhofe begab. Nachdem er dort allerdings nach einigem Widerstreben der Wirtin für seine Cousine Wohnung und Pension gefunden hatte, eilte er, ganz von dem Gedanken an seine schöne, interessante Reisebekanntschaft erfüllt, mit der er ein geheimes Bündnis abgeschlossen, nach Hause.
Während er den Weg einschlug, der vom Meierhof nach der anderen Seite der Stadt führte, kamen rechts vom Bahnhof her zwei, die sich recht innig Arm in Arm führten, wie ein junges Liebespaar.
Er waren Sam und seine Auguste.
Dabei aber blickte Sam auch fleißig um sich, und als er jenseits der Felder den Agenten nach der Stadt gehen sah, machte er Auguste darauf aufmerksam, daß es Zeit sei, aufzubrechen.
„Wohin?“ fragte sie.
„Nach deiner Wohnung. Du bekommst deine Kabine für dich, wo du mit deinem Reibeisen und der Kaffeekanne hantieren kannst, wie es dir beliebt. Bei mir wärst du viel zu geniert. Ich habe geistige Arbeit. Ich bin Kriminalgendarm geworden.“
„Unsinn.“
„Höre, ich mache niemals Unsinn. Als Braut mag dir so ein diplomatischer Fehlgriff noch einmal hingehen. Als Frau aber bekämst du entweder die Knute oder die Bastonade – eins von beiden. Du könntest dir wählen, was dir das liebste ist.“
„Danke sehr. Tue nur nicht so bärbeißig. Du bist doch der erste, den ich unter den Pantoffel bekomme. Wer soll denn vor dir Respekt haben!“
Sie befanden sich bereits unterwegs. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Seiten und entgegnete:
„Jetzt hört alles auf! Ich habe mich mit dem grauen Bären herumgebalgt, den Büffel gejagt und mich mit allen möglichen Wilden herumgehauen; ich habe mich mit sibirischen Majors und Kreishauptmännern herumgezankt und bin stets siegreich gewesen, und jetzt, jetzt –“
„Jetzt bist du still! Verstanden?“ fiel sie ein.
„Ja
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