60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
hinterlassen, die von ihm übernommen worden waren. Er wollte das Andenken des Toten rein erhalten und sah sich gezwungen, diesem Vorhaben über die Hälfte seines wöchentlichen Verdienstes zu opfern.
Auch heut, als Marie eintrat, saß er am Tisch und sann und feilte, feilte und sann, daß ihm trotz der im Stübchen herrschenden Kälte der Schweiß von der Stirn tropfte.
Marie teilte ihre Gaben aus. Sie wollten nicht angenommen werden, aber sie besiegte jeden Widerstand mit der Versicherung, daß Robert einen Speisenvorrat für mehrere Tage mitgebracht habe. Man sah es dann der Blinden an, daß sie wohl schon seit Tagen sich nicht vollständig sattgegessen habe.
Sie ging dann schlafen, und nun befanden sich die beiden jungen Leute allein. Er blickte zu ihr herüber und legte die Feile weg. Sie blickte zu ihm hinüber und legte die Seide fort, aus welcher sie sich einen Vorrat von Stickfäden gezogen hatte.
„Marie?“ sagte er halblaut.
„Wilhelm?“ antwortete sie ebenso.
„Liebe Marie!“
„Lieber Wilhelm!“
„Die Mutter ist schlafen!“
„Ja.“
„Ob sie wohl schon eingeschlafen ist?“
„Vielleicht“, antwortete sie errötend.
„Oder ob sie noch einmal zurückkehren wird?“
„Auch das ist möglich.“
„Aber, liebe Marie, sie kann doch nicht sehen!“
„Leider, lieber Wilhelm.“
„Darf ich also kommen?“
Sie antwortete nicht mit Worten, aber sie nickte mit dem hübschen Köpfchen. Das war genug. Er stand von seinem Stuhl auf und kam zu ihr. An der Wand stand ein Sofa, ein Kanapee, oder doch etwas, dem man diesen Namen beilegen konnte, wenn man es nicht gar zu sehr genau nahm. Vier hölzerne Beine, drei Bretter darauf genagelt, hüben und drüben eine hohle Rolle aus starker Pappe und darüber ein Überzug von groß geblümtem Zitz, die Elle für fünfzehn Pfennig; das war das Kanapee oder das Sofa oder der Diwan, welchen Wilhelm vor zwei Jahren seiner Mutter als Christgeschenk gegeben hatte. Er hatte damals das Möbel selbst zusammengenagelt und Marie hatte den Überzug besorgt und eingesäumt.
Darauf saß sie jetzt, und er setzte sich zu ihr.
„Weißt du, daß du recht angegriffen aussiehst?“ fragte er, indem er ihr kleines, arbeitsames Händchen ergriff.
„Und weißt du, daß du heut wieder blässer bist als gestern?“ antwortete sie, indem sie ihr Händchen nicht aus seiner fleißigen Hand zurückzog.
„Du solltest dich viel, viel mehr schonen!“
„Du nicht minder!“
„Ja, ja“, lächelte er. „Wir geben einander nur immer guten Rat; aber weißt du, was wir ganz und gar vergessen, uns zu geben, liebe Marie?“
„Nun, was?“ fragte sie sehr neugierig.
„Einen Kuß.“
So hielten sich die beiden jungen Leutchen also fest umschlungen. Ihre Herzen waren so froh und voller Blumen wie der Sitzüberzug, auf dem sie saßen, und dabei hatten sie sich einander Tausenderlei zu sagen und zu fragen, obgleich sie täglich um ganz dieselbe Zeit ein Stündchen zusammenkamen.
Daß dann die gute, blinde Mutter stets schlafen ging, war natürlich der reine Zufall. Aber eine Mutter kennt das Menschenherz nur allzu gut und gar eine blinde Mutter weiß ganz genau, daß in all das Elend der Arbeit und des Hungers zuweilen ein Sonnenstrahl gehört, und den wärmsten, hellsten Strahl versendet doch eigentlich nicht die Sonne, sondern die Liebe, welche die Sonne aller Sonnen ist. Und kommt nun so ein Sonnenstrahl, so geht die Blinde schlafen, da er ihr ja doch nichts nützen kann.
„Wann wirst du fertig mit deiner Stickerei?“ fragte Wilhelm.
„Morgen.“
„Gott sei Dank. Dann kannst du doch einmal ausruhen.“
„Aber ich bekomme auch ein schauderhaft vieles Geld.“
„Wieviel?“
„Das weiß ich selbst noch nicht. Wie geht es mit deiner Maschine?“
„Immer langsam, aber sicher. Man hat so viel zu berechnen.“
„Das ist sehr wahr“, nickte sie verständnisinnig, obgleich sie von der Sache gar nicht viel verstand. Aber wer einen Mechanikus liebt, muß doch wenigstens wissen, daß er sehr viel zu berechnen hat. „Wann wirst du fertig?“
„Noch vor Weihnacht.“
„Wie schön! Dann kannst auch du zu den Feiertagen ruhen.“
„Und dann das viele Geld.“
„Wieviel?“
„Vierhundert Taler oder gar noch mehr.“
Sie schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und sagte:
„Vierhundert Taler. Diese Engländer müssen doch schrecklich reiche Leute sein. Oder gar noch mehr. Was tust du mit dem vielen Geld?“
„Komm her. Ich will's dir sagen.“
Er
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