60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
und kamen in einen engen, dunklen Hausflur, wo das Mädchen eine Tür öffnete. Finsternis herrschte da.
„Bist du es, Anna?“ fragte eine männliche Stimme.
„Ja. Warum hast du kein Licht?“ antwortete sie.
„Das Öl ging aus. Ich wollte die letzten Tropfen für deine Rückkunft aufheben. Hast du etwas gefunden?“
„Ja, lieber Vater. Warte nur. Ich will Licht machen!“
„Ja, brenne an. Ich habe Hunger!“
„Hunger!“ ließ sich ein knurrendes, fast unartikuliertes Echo aus einer Ecke vernehmen, die aber noch nicht zu sehen war.
Ein Zündhölzchen flammte auf, und dann brannte der Docht einer kleinen Lampe. Der Fürst stand vor der noch offenen Tür. Er hatte den Korb neben sich niedergesetzt. Er erblickte ein Zimmer oder vielmehr ein kaltes, feuchtes Gewölbe. Einiges Stroh und einige Lumpen lagen am Boden, darauf ausgestreckt in dem Winkel die Gestalt eines einbeinigen Mannes, in dem anderen Winkel aber eine hundeartig zusammengerollte Masse, welche man kaum für ein menschliches Wesen nehmen konnte. Der eine war der Vater und der andere der stumpfsinnige Bruder der armen Näherin, der es jedenfalls nicht an der Wiege gesungen worden war, daß sie einst ein solches Elend ertragen müsse. Der einstige Wachtmeister erblickte beim Schein der Lampe den Fürsten und fragte in mißtrauischem Ton:
„Wer steht hier? Wen hast du mitgebracht? Einen Polizisten?“
„Nein, o nein, lieber Vater!“ antwortete sie. „Das ist mein Retter, mein Wohltäter, welcher uns einen ganzen Korb voll – ah, mein Herr, soll das, was sich in dem Korb befindet, wirklich uns gehören?“
„Natürlich, natürlich, liebes Fräulein“, antwortete er, indem er eintrat und die Tür hinter sich zuzog. „Aber lassen Sie vor allen Dingen schauen, was hier das notwendigste ist!“
Es herrschte eine dumpfe Feuchtigkeit, eine grimmige Kälte in dem Raum, welcher mehr einem Stall als einer menschlichen Wohnung glich. Ein kleiner Windofen stand in der Ecke, an der Wand lehnte ein Tisch und an dem einzigen, kleinen Fenster standen zwei alte Stühle, auf welche sich zu setzen gefährlich zu sein schien.
„Gibt es hier in der Nähe Holz und Kohlen zu kaufen?“ fragte der Fürst.
„Zur jetzigen Stunde nicht mehr“, antwortete das Mädchen.
„Aber Feuer müssen Sie haben. Kommen Sie, bitte, helfen Sie mir hier den Korb leeren.“
Der Alte hatte sich inzwischen mit Hilfe seines Stelzfußes erhoben und trat herzu. Er sah, was die beiden dem Korb entnahmen und auf den Tisch legten.
„Herrgott!“ rief er, indem seine Augen gierig funkelten. „Brot, Butter, Käse, Schinken, Wurst, Eier, Fleisch und Wein! Wem gehört das? Wer darf das essen?“
„Du, du, ihr, lieber Vater!“ antwortete die Tochter. „Dieser Herr ist so gütig, es uns zu schenken.“
„Gib mir Brot!“ sagte er, nach einem Messer greifend.
„Brot!“ knurrte es aus der Ecke, und der Knäuel begann, sich zu entrollen.
Als der Schwachsinnige sich erhob und herbeitrat, bot er eine Erscheinung zum Fürchten. Er war eine wahrhaft hünenartige Gestalt mit kurzen, übermäßig dicken Beinen und langen, dünnen Affenarmen, an denen sich statt der Hände riesige, behaarte Bärentatzen zu befinden schienen. Sein Gesicht glich dem einer englischen Bulldogge, und das freudige Zähnefletschen, mit welchem er den Anblick der Eßwaren begrüßte, hatte etwas grauenhaftes Hungrig-Tierisches an sich.
Der alte Wachtmeister hatte das Brot angeschnitten, warf dem Sohne ein Stück zu und biß nun auch selbst mit solcher Gier in seine Schnitte, daß es wirklich zum Weinen war. Wie lange hatten diese armen Leute wohl keine regelmäßige Nahrung gehabt!
Jetzt war der Korb völlig geleert. Der Fürst trat ihn mit den Füßen zusammen und riß ihn dann in Stücke auseinander. Vater und Tochter sahen ihm erschrocken zu. Sie begriffen nicht, warum er ihnen ihr Eigentum zerstörte.
„Hier, Fräulein, heizen Sie ein!“ sagte er. „Für weitere Nahrung für das Feuer werde ich gleich sorgen.“
Er ergriff erst den einen und dann den anderen Stuhl und trat und brach beide in Stücke.
„O weh, meine Stühle!“ jammerte der Alte.
„Grämen Sie sich nicht! Morgen sollen Sie bessere Möbel haben und auch eine gesündere Wohnung. Jetzt aber ist vor allen Dingen, da Sie sich sättigen können, auch Wärme notwendig. Verbrennen Sie nur getrost die Stühle, und, wenn das nicht langen sollte, auch den Tisch. Ich sorge für Ersatz!“
Er griff selbst mit zu, und bald prasselte
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