Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Worten schloß er bereits die Tür hinter sich. Er eilte durch die dichte Finsternis der beiden Flure und des Hofes hinaus auf die Straße.
    Das war die zweite Familie, welche er heute abend glücklich gemacht hatte, die eine hier in Nummer zehn und die andere in Nummer elf der Wasserstraße. Denn daß sich auch die Familie des Schneiders Bertram glücklich fühlte, das war gewiß. Ihre Glieder hatten seit langer Zeit sich zum ersten Mal wieder sättigen können.
    Die Kinder lagen schlafend auf ihren Strohsäcken. Der Brustkranke lehnte in seinem Stuhl, mit geschlossenen Augen und leise atmend; auch ihn wollte ein kurzer Schlummer erquicken. Marie war ein Stündchen eine Treppe tiefer gegangen und Robert, der Schreiber, stand in seinem Nebenstübchen am Fenster und schaute hinüber, wo jenseits der Gärten sich das Palais des Obersten von Hellenbach erhob.
    Dort wurden jetzt die Fenster dunkel, welche am heutigen Abend so festlich erleuchtet gewesen waren. Ein Licht erlosch nach dem andern, bis nur noch ein Fenster erleuchtet blieb.
    Dieses Fenster kannte Robert sehr genau. Wie oft, wie sehr oft hatte sein Auge auf demselben geruht, wohl mit derselben Ehrerbietung, mit welcher der kleine Käfer empor zur Sonne schaut.
    Auch jetzt zog er den Tischkasten heraus und entnahm demselben ein kleines Fernrohr. Keine Not, selber der Hunger nicht, hatte ihn vermocht, sich desselben zu entäußern, denn dieses Rohr war für ihn der Weg zur Seligkeit; es erlaubte ihm, von hier hinüber zu schauen zu der, von der er im Wachen träumte und über die er im Traum wachte. Er zog das Rohr aus und richtete es nach dem Fenster hinüber. Was sah er?
    Zwischen den Gardinen vorüber sah er sie vor dem Nachttisch stehen. Ihr Lockenhaar hing aufgelöst wie eine fließende Mähne auf die entblößten Schultern herab, welche aus der Ferne wie Silber und Perlmutter herüberglänzten. Sie hatte begonnen, sich zu entkleiden, und sein Blick folgte dem Gemälde, welches kein Maler in solcher Vollendung auf die Leinwand zu zaubern vermocht hätte. Und als das herrliche Bild verschwunden war, schob er das Rohr zusammen und flüsterte:
    „Ja, sie ist die Inkarnation der Nacht des Südens, jener funkensprühenden, reflexerglühenden, mächtigen, prächtigen Nacht der Tropen, wie ich sie im Gedicht geschildert habe. Sie hat zu diesen Versen gesessen und – und ich –? Ah, ich bin der Wurm, der während dieses Sternenflammens am Boden kriecht. Ich hätte nicht jene stolze, glückliche, strahlende Nacht schildern sollen, sondern die weinende, vor Tränen triefende Nacht, welche die unglückliche Schwester der ersteren ist. Ob ich das wohl brächte? Ob ich es vermöchte, ein Bild so großen Trauerns in den gleichen Rahmen zu fassen? Versuchen wir es!“
    Er nahm ein Blatt, tauchte die Feder ein, öffnete seine Gedichte, schlug ‚Die Nacht des Südens‘ auf, welche Fanny von Hellenbach so sehr begeistert hatte, und schrieb, als ob es ihm diktiert werde:
    „Wenn um die Berge von Befour
Des Abends dunkle Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
Hervor aus unterird'schen Hallen,
Und läßt auf die versengte Flur
Des Taues stille Perlen fallen.
Des Himmels Seraph flieht, verhüllt
Von Wolken, die sich rastlos jagen,
Die Erde läßt, von Schmerz erfüllt,
Den Blumen bitt're Tränen tragen,
Und um verborg'ne Klippen brüllt
Die Brandung ihre wilden Klagen.
Da bricht des Morgens glühend Herz:
Er läßt den jungen Tag erscheinen,
Der küßt den diamant'nen Schmerz
Von tropfenden Karfunkelsteinen
Und trägt ihn liebend himmelwärts,
Im Äther dort sich auszuweinen!“
    Also Marie, seine Pflegeschwester, war eine Treppe abwärts gegangen. Sie hatte von der Mahlzeit, welche Robert mitgebracht hatte, einen Teil zurückgelegt, um andere, welche auch litten, damit zu beglücken. Sie wußte, wie willkommen diese Gabe war.
    Da unten stand nämlich an einer Tür zu lesen: ‚Wilhelm Fels, Mechanikus‘. Öffnete man diese Tür, so trat man in ein ärmliches Stübchen, auf dessen Ofenbank eine ewig strickende, leidend aussehende, blinde Frau saß. Sie war des Tages stets allein, denn ihr Sohn arbeitete im Atelier seines Prinzipals. Des Abends aber kam er, und anstatt sich auszuruhen, arbeitete er an der Herstellung eines Mechanismus, welcher ihm von einem reichen Engländer zur Aufgabe gemacht worden war.
    Er war der Lieblingsgehilfe seines Meisters. Er verdiente einen schönen Lohn; aber er war leider ein ehrlicher Junge. Sein Vater hatte Ehrenschulden

Weitere Kostenlose Bücher