60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
nur zur Ersteigung des Fensters. Er ist zweifelsohne durch das Haus der Wasserstraße herübergekommen. Der Schlüssel zu diesem Haus fand sich in seiner Tasche, und die Gartenmauer, welche beide Grundstücke trennt, hat er mit Hilfe einer Holzleiter erklettert, welche zu dem Haus der Wasserstraße gehörte.“
„Diese Leiter blieb lehnen?“
„Ja. Sie wurde von den Polizisten bemerkt, nachdem die Arretur vollbracht war.“
„Ist das Messer rekognosziert worden?“
„Ja. Die kleinen Geschwister des Angeklagten, welche sich im Waisenhaus befinden, sagten aus, daß es ihnen gehört habe.“
„Und wo hat sich der Angeklagte vor der Tat befunden?“
„Die Kleinen konnten darüber nichts sagen. Nun ist zwar noch eine größere Schwester vorhanden, aber diese scheint infolge des Schreckes geistig gestört zu sein –“
„Dieses arme Mädchen!“ fiel Fanny ein.
„Ich nahm sie ins Verhör“, fuhr der Assessor fort. „Sie konnte sich zwar besinnen, daß ihr Bruder zum Abendbrot geladen gewesen sei, aber wo, das war ihr entfallen. Er war dann nach Hause gekommen und in seine Kammer gegangen, nach einiger Zeit aber in höchster Aufregung zurückgekommen und zum Zimmer hinausgesprungen.“
„Ah, meine Vermutung!“ sagte der Fürst. „Das ist es, was ich wissen wollte! Lassen Sie mich fortfahren! Bertram also erblickte den Einbrecher von weitem; er faßte den Entschluß, die Tat zu vereiteln. Die Seinen können ihm dabei nicht helfen, darum hält er es für besser, ihnen gar nichts zu sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Er ergreift das Messer, rennt die Treppen hinab und in den Hof; dort liegt die Leiter. Er klimmt hinauf, springt drüben hinab und eilt auf die Hinterseite dieses Hauses zu. Dort erblickt er die Leiter, welche zum Fenster emporführt. Er klettert eiligst hinan, findet das Fenster offen, steigt ein und sieht den Einbrecher bei seinem Raub. Er will ihn hinweg schleudern, reißt ihm dabei die Kette aus der Hand, und in diesem Augenblick dringen die Polizisten in das Zimmer. Sie sehen ihn mit Kette und Messer; sie halten ihn also für einen Komplizen des Riesen und nehmen ihn gefangen. Ist das nicht denkbar, Herr Assessor?“
Der Beamte war den Worten des Fürsten mit größter Spannung gefolgt. Jetzt sagte er:
„Durchlaucht, ich bewundere höchst Ihre außerordentliche Kombinationsgabe. Es ist, als ob man bei der Handlung zugegen wäre. In diesem Augenblick lerne ich dem Ereignis allerdings eine ganz andere Seite abzugewinnen.“
„Das soll mich außerordentlich freuen!“
„Ich erinnere mich, daß zwei der Polizisten sagten, welche am hinteren Tor Wache hielten, daß sie einen Menschen eiligen Laufs von drüben herkommen sahen, welcher die Leiter erklomm. Darauf hörten sie oben einen Ruf ‚Zurück, Elender!‘ oder so ähnlich, und dann –“
„Ja“, fiel Fanny schnell ein, „das waren die Worte, welche auch ich gehört habe.“
„Hat einer der Polizisten sie gesprochen?“ fragte der Fürst.
„Ich muß mich erkundigen“, antwortete der Assessor.
Der Fürst zuckte die Achsel und sagte in höflichem Ton, dem aber doch eine Art von Strenge anzuhören war:
„Diese Antwort hätte ich nicht erwartet!“
„Warum?“
„Weil gerade darauf, wer diese Worte gesprochen hat, so sehr viel ankommt.“
Man sah, daß der Beamte mit sich selbst kämpfte. Er fühlte gar wohl den Vorwurf, welcher in diesen Worten lag; aber er war zu pflichtgetreu, um sich von einem falschen Zorn übermannen zu lassen, und er gestand in edler Freimütigkeit:
„Ich habe ganz dieselben Worte aus dem Mund des phantasierenden Bertram gehört.“
„Wirklich? Ah, so ist es höchst wahrscheinlich, daß er es ist, der diesen Ruf ausgestoßen hat. Und in diesem Fall muß ich annehmen, daß meine Kombination das Richtige getroffen hat.“
„Es sollte mich herzlich freuen, wenn sich dies bewahrheitete. Diese Nummer elf der Wasserstraße ist vom Unglück –“
„Nummer elf?“ fiel der Fürst ein.
„Ja, Durchlaucht.“
„Nummer elf! Wasserstraße Nummer elf! Robert Bertram, Wasserstraße Nummer elf! Ah! Wo habe ich diese Adresse doch bereits einmal vernommen?“
Er blickte nachdenklich vor sich nieder und wiederholte diese Worte noch einige Male; dann aber sprang er plötzlich auf. Über sein Gesicht leuchtete es wie eine helle Erinnerung. Er wendete sich an den Assessor:
„Er deklamiert in seinen Phantasien das Gedicht von der Nacht des Südens?“
„Ja, Durchlaucht.“
„Er spricht das
Weitere Kostenlose Bücher