GK0208 - Im Haus des Schreckens
Zwölfmal schlugen sie. Ihr Klang erreichte die Ohren der jungen Frau.
Er erinnerte sie an die Totenglocke ihrer Heimatstadt.
»Mein Gott«, flüsterte Lydia, »was ist denn bloß los mit mir?«
Sie setzte sich auf. Ihr Atem ging schwer. Der Alpdruck war noch nicht verschwunden.
Über dem Bett hing an der Wand eine kleine Lampe. Lydia fand den Schalter.
Schon bald brannte das Licht. Der Schein war mild und anheimelnd.
Normalerweise jedenfalls. Jetzt kam er Lydia vor wie ein gespenstisches Leuchten. Er streifte mit seinem gelben Schimmer das hohe, durch ein Holzkreuz geteilte Fenster.
Das Zimmer war Lydia plötzlich unheimlich.
Genau wie das gesamte Haus.
Vor drei Tagen war sie eingezogen. Sie war aus einem kleinen Dorf an der schottischen Grenze nach London gekommen. Arbeit hatte sie bei einer Versicherung gefunden. Einen vollen Monat lang hatte sie in einer Pension gewohnt, bis sie eine Anzeige in der Zeitung gefunden hatte. Genau erinnerte sie sich noch an den Text.
RUHIGER MIETER GESUCHT FÜR EIN HAUS IN MAYFAIR.
BESTE LAGE. LIEBENSWERTE NACHBARN ERWARTEN SIE.
Lydia hatte sich bei dem angegebenen Makler gemeldet. Der Mann hatte sie erst einmal mehrere Minuten lang genau betrachtet. Dann hatte er gelächelt und gesagt: »Okay, Sie können einziehen, Miß Rankin!«
Das war alles gewesen. Keine Kaution, keine Mietanzahlung – nichts.
Lydia hatte sich gefreut wie eine Schneekönigin. Und sie war sogar noch erstaunter gewesen, als sie hörte, daß sie die einzige Mieterin in dem Haus sei.
In einem vierstöckigen Haus!
Nur im Parterre wohnte die Besitzerin, Mrs. Martha Longford, eine schon ältere Dame, die Lydia ebenso seltsam angesehen hatte wie der Makler.
Lydia Rankin griff nach ihren Zigaretten. Dann flammte das Feuerzeug auf. Es glänzte golden, und Lydia konnte ihr Gesicht in dem spiegelnden Metall sehen.
Was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Dicke Ränder lagen unter ihren Augen. Die Haut wirkte eingefallen, beinahe schon welk. Das rote Haar war stumpf geworden, obwohl sie es am vorigen Abend erst gewaschen hatte.
Es war eine Tatsache. Seitdem sie in diesem Haus lebte, verfiel sie immer mehr.
Lydia sog den Rauch ein. Sie mußte husten und drückte die Zigarette wieder aus.
»Ich werde wohl ausziehen«, murmelte sie. »Lieber mehr Miete bezahlen, als hier vor die Hunde gehen.«
Sie dachte wieder an die Hausbesitzerin. Vielleicht sollte man mit ihr mal reden. Ich werde sie fragen, aus welchem Grund sie die anderen Zimmer nicht vermietet hat, nahm Lydia sich vor.
Ich werde sie…
Ihre Gedankenkette wurde unterbrochen.
Sie hatte Geräusche gehört.
Über ihr!
Aber da wohnte niemand. Mrs. Longford hatte es ihr deutlich genug gesagt. Über ihrem Zimmer befand sich der Speicher. Und der war immer abgeschlossen.
Und doch…
Stimmen! Wispernd, raunend. Dann ein freudloses Lachen, das in einem Kichern endete.
Lydia bekam es mit der Angst zu tun. Eine Gänsehaut bildete sich und rieselte kalt den Rücken hinunter.
Lydia Rankin erhob sich von der Bettkante. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Sie mußte dabei am Fenster vorbei und warf einen Blick nach draußen.
Vor der Scheibe ballte sich die Dunkelheit. Die nächste Laterne stand einige Yards weiter. Ihr Schein reichte nicht einmal bis zur Haustür.
Auf der Straße war es ruhig. Kein Wagen fuhr, kein Hupgeräusch durchbrach die Stille der Nacht. Die gegenüberliegenden Häuser waren nur in ihren Umrissen zu erkennen. Sanft bogen sich die dichtbelaubten Bäume der Vorgärten im Nachtwind.
Lydia ging weiter. Sie erreichte die Tür. Sie war ebenso alt wie das Haus, und das dunkel gebeizte Holz war im Laufe der Zeit an einigen Stellen gesplittert. Überhaupt standen in dem Zimmer nur alte Möbel.
Ein wuchtiger, fast bis zur Decke reichender Schrank, Stühle mit gedrechselten Beinen, der kleine runde Tisch und das Bett mit der hohen Kopf- und Fußseite.
Das Waschbecken befand sich in einer Ecke des Zimmers, direkt neben dem Schrank. Es war keine Dusche vorhanden, ein Bad sollte angeblich im Keller existieren, doch Lydia hatte es noch nicht gesehen.
Die Tür war abgeschlossen.
Lydia tat dies immer, bevor sie sich zu Bett legte. Jetzt tastete sie mit zitternden Fingern nach dem Schlüssel und drehte ihn herum. Gut geölt schnappte das Schloß zurück.
Lydia Rankin blieb stehen und lauschte. Die Geräusche waren verstummt.
Lydia wischte sich über die Stirn. Hatte sie das alles nur geträumt, sich einfach eingebildet? Nein, sie hatte wach
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