60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
zuweilen ein Frauenbild erschienen ist, so schön, so wunderbar, so entzückend! Es ist ihm gewesen, als sei eine Fee aus dem Märchenreich erschienen oder ein Engel vom Himmel gestiegen. Er, drüben in der Mansarde, so arm, so elend, wie er ja singt in dem Lied, welches Sie selbst komponierten:
‚Es rauscht der Bach am Felsenspalt
Sein melancholisch Lied.
Hier ist's so eng; hier ist's so kalt,
Wo nie der Nebel flieht!‘
Und sie, da drüben, von Glanz und Reichtum umgeben. Er hat gewußt, wie hoch sie über ihm steht; aber die Sonne leuchtet auch dem Wurm, und er hat sie angebetet, wie der Parse die herrliche Königin des Tages anbetet. Die Erde hat ihn vernachlässigt; die Menschen haben ihn nicht bemerkt und beobachtet; das Leben ist hart und grausam gegen ihn gewesen; aber Gott hat ihm den Gesang verliehen, und als ihm das Herz zerspringen wollte vor Bewunderung und Verehrung des schier übernatürlichen Wesens, dessen Gestalt er täglich im Rahmen des Fensters erblickte, da hat er seinen letzten Pfennig für Papier ausgegeben und jenes unvergleichliche, hinreißende Gemälde gezeichnet:
‚In ihren dunklen Locken blühn
Der Erde düftereiche Lieder;
Aus ungemess'nen Fernen glühn
Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
Und traumbewegte Wogen sprühn
Der Sterne goldne Opfer wieder.
Und bricht der junge Tag heran,
Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
Sich durch purpurne Tore winden,
Sein Angesicht zu schau'n und dann
Im fernen Westen zu verschwinden.‘
So hat er auch drüben gestanden und nach diesem Fenster herübergeblickt am Abend des Einbruchs. Er hat den Verbrecher bemerkt und ist herübergestürzt, die Herrliche zu retten. Der Lohn ist ihm dafür geworden: Er liegt im Kerker, gefangen, gefesselt, mit irrem Geist. Er hat die ‚Nacht des Südens‘ die unvergleichliche, gedichtet und ist in die gräßliche Nacht des Wahnsinns gefallen!“
Er hatte still, fast leise gesprochen; aber sein Auge leuchtete und seine Lippen bebten dabei. Fanny hatte ihm wortlos zugehört; sie war bleicher und bleicher geworden. Zuletzt hatte sie die Hand auf die Lehne des Stuhls gelegt, und jetzt sank sie auf den Sitz nieder, still, wortlos. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und bewegte sich nicht.
„Fanny, Fanny! Mein Kind!“ rief ihre Mutter, indem sie herbeieilte und den Arm um sie schlang.
„Fanny, Mädchen! Was hast du?“ fragte der besorgte Vater.
Sie antwortete nicht; aber bald nahm sie die Hände weg; ihr Gesicht war blutleer; ihre dunklen Augen starrten unter dem Eindruck ihrer tiefen inneren Bewegung zu dem Fürsten empor, und fast tonlos fragte sie:
„Durchlaucht, ist es wahr?“
„Ich vermute es.“
„Er ist Hadschi Omanah?“
„Ja.“
„Gott, mein Gott!“
Jetzt löste sich der Druck von ihrer Brust; sie fiel in ein bitteres, herzbrechendes Schluchzen. Niemand störte sie; man ließ sie gewähren. Endlich bat sie mit zitternder Stimme:
„Sprechen Sie weiter!“
Der Assessor war den Worten des Fürsten mit vollster Aufmerksamkeit gefolgt. Es wurde ihm klar, was dieser meinte; er war voller Bewunderung über den Scharfsinn dieses seltsamen Mannes; er wendete sich zu ihm und bemerkte:
„Eigentümlich! Es hat sich als einziges Eigentum des Gefangenen der Band von Hadschi Omanah vorgefunden, und zwar mit Randbemerkungen, deren Geistesreichtum mich erstaunen ließ.“
„Ein neuer Beweis, daß ich recht habe.“
„Aber, Durchlaucht, wie kommen Sie zu dieser Sicherheit der Überzeugung, daß Bertram der Dichter jener Lieder ist?“
„Aus drei Gründen. Erstens, weil er mir sagte, daß er für Zimmermann einen Band Gedichte geschrieben habe.“
„Zweitens?“
„Die Persönlichkeit Fräulein Fannys, auf welche allein sich das Nachtgedicht beziehen kann.“
„Und drittens?“
„Der Umstand, daß er selbst im geistesirren Zustand dieses Gedicht rezitiert. Herr Assessor, Sie haben Hadschi Omanah im Gefängnis. Sein Verleger ließ ihn verhungern, und für die, welche er zu retten suchte, ward er in Ketten gelegt!“
Da sprang Fanny auf und rief:
„Er muß frei sein: er soll frei sein! Herr Assessor, ich bitte Sie, geben Sie ihn heraus!“
„Kind, Kind, sei nicht so aufgeregt!“ bat ihr Vater. „Was du da verlangst, ist unmöglich!“
„Unmöglich zwar für heute“, fügte der Assessor bei; „aber ich werde dafür sorgen, daß die Stunde der Erlösung baldigst schlägt. Zunächst ist das Resultat des Begräbnisses abzuwarten.“
„Ich gehe
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