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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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wollen!“ sagte sie, indem ihr Gesicht den Ausdruck der Enttäuschung zeigte.
    „Ich bin leider dazu gezwungen. Da ich so glücklich sein werde, Sie den ganzen Abend bei mir zu sehen, muß ich die kurze Zeit bis dahin den Geschäften widmen, welche nötig sind.“
    Er sah, daß sie eine Liebkosung, einen Abschiedskuß erwartete, aber es gelang ihm doch, mit einer bloßen Verbeugung zu entkommen. Hätte er gewußt, daß sie von Seidelmann geküßt worden war, so wäre seine Abscheu gegen sie noch viel größer gewesen. Vielleicht hätte er in diesem Fall sogar auf ihren Besuch verzichtet.
    „Welch schöner Mann!“ flüsterte sie, als er fort war. „Ich möchte fast glauben, daß ich ohne ihn nicht zu leben vermag. Ich liebe ihn, ich liebe, liebe, liebe ihn! Ich könnte für ihn alles, alles, alles tun! Ich könnte stehlen, morden – ich könnte sogar meinen Mann, diesen – ah! – verraten!“
    Und er, der Fürst, als er nach der Treppe schritt, schüttelte sich und flüsterte leise:
    „Gemeines Weib! Sie besucht mich, des Abends, allein! Ich verachte sie mit jeder Faser meines Herzens; aber ich darf sie nicht von mir weisen, wenn ich siegen will.“
    Als er unten einstieg, flüsterte ihm der Diener zu:
    „Ein anderes Arrangement mit der Zofe getroffen!“
    „Wieso?“
    „Wir gehen nicht zum Ball.“
    „Schön! Ihr werdet allein sein. Die Baronin besucht mich für den Abend. Das Übrige nachher!“
    Er fand die Familie des Obersten allein. Sie fühlten sich alle durch seinen Besuch im höchsten Grad geehrt und geschmeichelt. Natürlich war der Einbruch der alleinige Gegenstand des Gesprächs. Der Oberst zeigte sich sehr befriedigt, daß man die Rücksicht gehabt hatte, seine Tochter nicht an Gerichtsstelle zu verhören. Der Assessor war selbst gekommen, um ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen. Grad als man noch darüber sprach, trat der Diener ein und meldete:
    „Herr Assessor von Schubert.“
    „Ah, jedenfalls etwas Neues und Wichtiges!“ meinte der Oberst. „Der Herr mag eintreten.“
    Der junge Untersuchungsrichter folgte der Einladung und wurde dem Fürsten vorgestellt, vor dem er sich respektvoll verbeugte.
    „Ich habe sehr um Verzeihung zu bitten, daß ich Zutritt nehme“, sagte er, „zumal es eigentlich nichts Zwingendes ist, was mich dazu veranlaßt. Ich komme, um Ihnen, gnädiger Herr, eine Bitte oder vielmehr zunächst eine Frage vorzutragen.“
    „Ich stehe gern zur Verfügung“, antwortete der Oberst.
    Und als der Assessor einen halben fragenden Blick auf den Fürsten warf, fuhr der Oberst fort:
    „Ist der Gegenstand Ihres Besuches ein Amtsgeheimnis?“
    „Allerdings nein.“
    „So werden Durchlaucht gestatten, Sie zu hören.“
    „Gewiß!“ antwortete der Genannte. „Ich nehme so aufrichtig teil an den Schicksalen Ihrer lieben Familie, daß ich mich für dieselben ebenso interessiere wie für meine eigenen Angelegenheiten. Natürlich setze ich voraus, daß meine Anwesenheit dem Herrn Assessor nicht störend erscheint.“
    „Nicht im geringsten“, antwortete der Beamte. „Es handelt sich um den angeschuldigten Bertram –“
    „Ah!“ meinte der Fürst. „Der junge Mann ist der Gegenstand des allgemeinen Stadtgespräches. Man kann sich nicht denken, wie der Riese sich mit ihm verbinden konnte.“
    „Das ist auch mir ein Rätsel.“
    „Hat er gestanden?“
    „Kein Wort. Ich habe überhaupt noch kein Verhör mit ihm vornehmen können. Er liegt entweder in vollständiger Lethargie, oder er phantasiert. Er scheint krank zu sein.“
    „Oder zu simulieren!“ bemerkte der Oberst.
    „Der Untersuchungsrichter ist gezwungen, dies zunächst anzunehmen; in der Folge aber bin ich beinahe zu der festen Überzeugung gekommen, daß von einer Verstellung keine Rede ist.“
    „Nun, wenn er in Wirklichkeit phantasiert, so läßt sich aus seinen Reden vielleicht auf den Gegenstand der Untersuchung schließen?“
    „Nicht im geringsten. Er ruft immer: ‚O Nacht, Nacht, Nacht!‘ oder er deklamiert Verse.“
    „Bekannte Verse?“
    „Das eine Gedicht hat die ‚Fee des Meeres‘ zum Gegenstande, und das andere ist die ‚Nacht des Südens‘ aus der Gedichtsammlung des Hadschi Omanah.“
    „Sonderbar!“
    „Höchst sonderbar! Er scheint körperlich Schmerzen zu leiden. Er hat sein Lager zerstört und zerrissen, vielleicht unter dem Eindruck dieses Schmerzes. Heut haben wir ihn zur Leiche seines Vaters geführt. Wir glaubten, ihn zum Sprechen zu bringen, aber vergebens. Und

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