60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Überzieher abnahm.
„Guten Abend, Herr Seidelmann“, grüßte er.
„Guten Abend, lieber Friedrich! Ist der Herr Baron noch zu sprechen?“
„Ja, ich werde Sie sogleich melden!“
Der Diener ging, um dieses Versprechen zu erfüllen. Herr Seidelmann trat an einen Spiegel, strich sich sein weniges Haar auf dem kahlen, glänzenden Scheitel zurecht, zupfte an seinem weißen Halstuch herum, gab seinem Gesicht einen möglichst ehrwürdigen Ausdruck und trat sodann durch die Tür, welche der Diener ihm soeben öffnete.
Aus der gegenüberliegenden Tür trat – Baron Franz von Helfenstein. Er war in den zwanzig Jahren magerer geworden, viel älter eigentlich nicht; aber sein Gesicht hatte jenes eigentümliche Etwas an sich, welches den Roué kennzeichnet und den Menschen, welcher nur durch künstliche Mittel den Schein zu bewahren vermag, daß er sich noch im Besitz der körperlichen Frische befinde.
Herr Seidelmann machte eine tiefe Verneigung und sagte:
„Verzeihung, daß ich störe, Herr Baron! Ich komme, mir meine Instruktionen zu holen.“
„Allgemeine oder besondere?“ fragte Helfenstein, während er sein Monokel in die Augenhöhle befestigte.
„Beides!“
„Dazu habe ich leider jetzt keine Zeit. Man hat mir die Ehre erwiesen, mich zum Dirigenten des hiesigen Armenwesens zu ernennen. Es war mir das nicht lieb, ja, einigermaßen fatal, da es meine Zeit, welche ich anderweit so notwendig brauche, fast ganz absorbiert. Sie, mein Ehrwürdigster, nehmen mir zwar ein gut Teil der Arbeit ab; aber es bleibt mir dennoch genug übrig, um mich öfters geradezu zu verstimmen. Nächstens haben wir ja wieder Sitzung. Bis dahin wollen wir das Allgemeine aufheben. Und das Besondere – ah, was haben Sie in Beziehung darauf?“
„Da will ich kurz sein und nur das Haus in der Wasserstraße erwähnen. Es ist Ihr Eigentum, und daher liegen die Verhältnisse desselben mir doppelt am Herzen. Heut ist der letzte November –!“
„Ah, da ist morgen der Zins wieder fällig! Wie gut, wenn man nur monatlich vermietet! Dieses Pack würde sonst niemals zahlen!“
„Haben sie jemandem zu kündigen?“
„Hm! Wäre das nicht bereits zu spät?“
„Sechs Uhr ist die gesetzliche Frist, allerdings vorüber, aber mit diesem Volk macht man ja kein Federlesens.“
„Nun, wie steht es mit dem Holzhacker im Parterre?“
„Er wird bezahlen können.“
„So? Hat er denn endlich einmal Geld?“
„Er wird jedenfalls morgen welches einnehmen.“
Dabei hatte das Gesicht des Herrn Seidelmann einen Ausdruck angenommen, ähnlich demjenigen des Fuchses in der Fabel, welcher sich ehrbar der Henne nähert, um ihr die Küchlein wegzufressen.
„Gut, so mag er bleiben!“ meinte der Baron. „Und der Schneider-Musikant im dritten Stockwerk?“
„Mit dem steht es sehr schlecht. Er wird es nicht mehr lange machen. Die Auszehrung bringt ihn um.“
„Hm! Ich werde mit diesem unglücklichen Mann doch noch einige Zeit Nachsicht haben. Man ist leider nicht ganz ohne Herz und Gemüt!“
„Der gnädige Herr haben recht. Ihr Herz ist warm und empfänglich für alles Gute und Edle.“
Dabei aber machte er das Gesicht eines Mannes, dem ein Betrunkener sagt, daß er noch niemals ein Glas Schnaps oder Wein getrunken habe.
„Und die andern?“ fragte der Baron.
„Oh, die weiß ich zu nehmen! Sie müssen bezahlen, außer –“
„Ja“, fiel ihm Helfenstein in die Rede, „Sie sind der beste Kassierer und kennen den Wert des Mammons. Also mit dem Schneider wollen wir noch einige Zeit Geduld haben; aber besuchen können Sie ihn, um ihm in das Gewissen zu reden.“
„Und der Graveur und der Mechanikus, welche ich noch erwähnen wollte, grad als ich die Ehre hatte, unterbrochen zu werden?“
„Das sind zwei junge, strebsame Burschen, welche wir nicht drängen wollen. Doch, apropos, da fällt mir eben ein: Ist der älteste Sohn des Schneiders sein leibliches Kind?“
„Nein, er ist nur der Pflegesohn, trägt aber den Namen seines Pflegevaters, da man den seinigen nicht kennt.“
„Wie kommt der Schneider bei seiner Armut dazu, einen Pflegesohn zu haben?“
„Vor zwanzig Jahren war er wohlhabend und einer der besten Uniformkünstler der Residenz. Er war zugleich ein ausgezeichneter Waldhornist; diese Fertigkeit aber hat ihm die Auszehrung an den Hals gebracht. Das Waldhorn kam in Wegfall, es wurde durch das Kornett und die Trompete verdrängt. Mit der Musik, welche ihm Geld eingebracht hatte, war es aus. Sein Brustleiden
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