60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
streichen.
Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Kolossalität des Allgemeinen überwältig, sich auf das besondere und einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt- und Erdenentwicklung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken.
Dem ist aber nicht so! Über eine kleine Weile – und solche kurze Pausen können im Zeitengang Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten – entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worte, welche in deutlicher Lesbarkeit beweisen, daß im Übergang des Geschehenen zum Gegenwärtigen und Zukünftigen unmöglich eine auch nur sekundenlange Pause eintreten kann.
Die Gegenwart schlägt ihre Wurzel stets in die Vergangenheit. Wer die erstere begreifen will, muß unbedingt die letztere kennen. – So ist es auch bei der ebenso großartigen wie rätselhaften Erscheinung, welche der ‚Fürst des Elends‘ bietet. Sie kann nur dem erklärlich sein, welchem die Erlaubnis zuteil wird, einen Blick in die Vergangenheit dieses außerordentlichen Charakters zu tun. Dieser Blick ist durch das bisher Erzählte ermöglicht worden, und nun kann das rastlos schaffende Leben seinen Griffel zur Fortsetzung auf die eherne Tafel der Geschichte richten.
Ungefähr zwanzig Jahre waren vergangen. Am heutigen Tag, an welchem man den letzten November schrieb, war viel Schnee gefallen; dann hatte sich das Wetter aufgeklärt, und jetzt, am Abend, gab es eine Kälte, welche die Glieder zu durchschneiden schien.
Es war der erste Tag des Weihnachtsmarkts. Die Läden waren doppelt hell erleuchtet als sonst; auf den Straßen und Plätzen standen zahlreiche Buden, in welchen alles zu haben war, worauf sich die weihnachtlichen Wünsche nur immer erstrecken konnten. Die Käufer, reich oder armselig bekleidet, durchstampften den Schnee, um sich die Waren anzusehen, und die Verkäufer gaben sich die erdenklichste Mühe, ihre Auslagen an den Mann zu bringen.
Eigentlich hätte man sagen können, daß reich und arm geschieden sei. Es gab Plätze, wo nur der von dem Glück Bevorzugte kaufen konnte, während in den abgelegeneren und düstereren Winkeln und Gassen diejenigen sich zurückgezogen hatten, deren Waren mehr für die Mittel derjenigen geeignet waren, welche mit den Sorgen des Lebens zu kämpfen haben und doch den Ihrigen gern eine Festfreude machen wollen.
In einem dieser Winkel saß eine Obsthökerin vor ihrem Stand, welcher durch zwei Laternen erleuchtet war. Sie saß auf einem Schemel, unter welchem ein Becken mit glühenden Holzkohlen stand. Ihren weiten, dicken, altmodischen Mantel hatte sie so um sich geschlagen, daß er rund um den Schemel herum den Boden erreichte. Auf diese Weise ging von der Wärme der Kohlenglut gar nichts verloren.
Ihr zur Rechten stand ein kleines, wackeliges Tischchen, auf dem ein Häufchen aus Binsenmark geflochtene Vogel- oder vielmehr Taubengestalten zu sehen war. Man sieht solche Figuren oft an den Zimmerdecken armer Leute hängen und nennt sie ‚heilige Geister‘.
Ihr zur Linken war der Schnee in einem kleinem Viereck gleich mit den Händen entfernt worden, und auf diesem Fleckchen Erde stand ein Dutzend kleiner Holzfiguren, roh mit der Hand geschnitzt, mit Wasserfarben bemalt und mit beweglichen Armen und Beinen versehen.
Vor dem Tischchen zur Rechten stand ein Knabe, welcher ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte. Er strampelte mit den Beinen und schlug die Arme übereinander, denn es fror ihn gewaltig.
Vor den Holzfiguren kauerte ein vielleicht elfjähriges Mädchen. Sie war nur mit einem dünnen Röckchen und einem eben solchen Kopftuch bekleidet und hatte einen alten, zerrissenen Frauenspenser um sich hängen, welcher ihrer Mutter oder Großmutter gehören mochte. Weil er ihr im Stehen nicht bis auf die Füße reichte, hatte sie sich in den Schnee gekauert, um ganz bedeckt zu sein. Doch zeigte das Schütteln, welches ihre kleine Gestalt immer öfter überlief, daß ihr die Kälte gar sehr zu schaffen machte.
In der Ferne sah man Droschken oder reiche Equipagenschlitten mit galonierten Kutschern und Bedienten vorüberfliegen; die Strahlen der Ladenlichter glänzten verlockend herüber; hierher aber kamen gewiß nur Personen, welche kaum jemals in einem Schlitten gesessen hatten oder in einem solchen
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