61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
zur Tür hereingeschritten, voran der fromme Schuster. Er trug eine Art Priestertalar und eine Kopfbedeckung, welche dem Barett lutherischer Pfarrer ähnlich geformt war.
Ihm folgten die Inhaber des Geschäftes Seidelmann und Sohn nebst ihren Angestellten und dann die Beamten des freiherrlichen Kohlenwerks ‚Gottes Segen‘. Sie grüßten nicht. Sie schritten in stolzer Haltung auf das Podium zu und nahmen dort auf den Samtsesseln Platz. Der Schuster trat hinter das Klavier, faltete die Hände und hob die Augen zu dem frommen Werk, welches zu beginnen er im Begriff stand. Sodann begrüßte er die Versammelten mit den bekannten Worten:
„Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesum Christum!“
Es sind dies die Worte, mit denen lutherische Kanzelredner ihre Predigten zu beginnen pflegen. Er sprach dabei, wie so manche dieser Geistlichen, den Namen des Heilands nicht Jesu Christo, sondern falsch, im Akkusativ, aus. Sodann begann er das Werk, indem er das Gesangbuch aufschlug und die Anwesenden darauf aufmerksam machte, daß ein Trostlied gesungen werden solle, da er gekommen sei, ihnen in ihrer Not und ihrem Elend die einzig wahre Hilfe und Rettung zu bringen. Er las die Verse einzeln vor, Fritz Seidelmann, sein Neffe, welcher gelernt hatte, ein halbes Dutzend Noten auf dem Klavier zu spielen, setzte sich an das Instrument und gab den Ton an. Erst ließen sich nur einzelne Stimmen hören; bald aber fielen mehrere ein, und endlich erklang es laut und kräftig wie in der Kirche:
„Sollt es gleich bisweilen scheinen,
Als verließe Gott die Seinen,
Oh, so weiß und glaub ich dies:
Gott hilft endlich doch gewiß!
Hilfe, die er aufgeschoben,
Hat er doch nicht aufgehoben.
Hilft er nicht zu jeder Frist,
Hilft er doch, wenn's nötig ist.
Gleich wie Väter nicht bald geben,
Wonach ihre Kinder streben,
So hält Gott auch Maß und Ziel;
Er gibt, wem und wenn er will!“
Nach diesen Strophen begann der Vortrag über das Thema: Gott ist der Helfer in jeder Not und Gefahr. Er zerfiel in die beiden Teile: Herr, hilf uns; wir verderben! und: Oh, Ihr Kleingläubigen, warum zweifelt ihr?
Die Zuhörer mußten sich gestehen, daß der einstige Schuster im Besitz eines wirklichen Rednertalents sei. Er stellte sich keineswegs außerhalb der christlichen Kirche; nein, dazu war er viel zu klug. Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse, ihre Notlage, ihr Elend. Er kannte jedenfalls ebensogut auch die wirklichen Gründe desselben. Er schilderte es ihnen mit beredten Worten in seiner ganzen nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich wohl, diese Gründe zu erwähnen. Er sprach von dem immer mehr überhand nehmenden Unglauben, von dem Mangel an Liebestätigkeit. Er forderte sie auf, dem Bund der Brüder und Schwestern der Seligkeit beizutreten. Dieser Bund habe den Zweck, den Glauben an Gott und das Vertrauen zu ihm neu zu erwecken und zu pflegen. Die Angehörigen seien bereit, im Namen des Allgütigen und Allbarmherzigen den leidenden Brüdern und Schwestern beizustehen. Darum solle heute eine Kollekte abgehalten und eine Sammelstelle hier gegründet werden. Ein jeder solle nach seinen Kräften geben; was er gebe, gebe er Gott, und dieser vergelte solches tausendfältig. Wer da Hilfe verlange, solle zuvor selbst beitragen, daß geholfen werden könne.
Er riß seine Hörer hin. Sie übersahen die Mängel seines Vortrags; sie erkannten nicht, daß er gekommen sei, zu empfangen, nicht aber, zu geben. Sie selbst waren bitter arm, blutarm; aber sie kannten ja das Elend, und darum fühlten sie sich tief ergriffen. Er war der Fuchs, welcher den Hühnern predigt, und er verstand seine Sache.
Am Schluß seiner Rede nahm er das Gesangbuch wieder zur Hand und ließ die Strophen singen:
„Seiner kann ich mich getrösten,
Wenn die Not am allergrößten.
Er ist gegen mich, sein Kind,
Mehr als väterlich gesinnt.
Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen.
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!“
Und nun griff er in die Tasche seines Talars, zog eine blecherne Büchse hervor und begann einzusammeln, zunächst bei seinen Verwandten. Man hörte die schweren Geldstücke, welche sie gaben, in die Büchse fallen. Dann kamen die Angestellten daran, und endlich ging er auch weiter, von Reihe zu Reihe.
Wer nichts einstecken hatte, konnte natürlich nichts geben oder borgte sich beim Nachbarn eine Kleinigkeit; die anderen aber
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