Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

Titel: 61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
dir geschehen? Dir muß ja etwas ganz und gar Ungewöhnliches passiert sein!“
    Das gab ihm die Sprache wieder. Er antwortete, aber immer noch stockend, als ob er sich von seiner Überraschung noch immer nicht erholen könne:
    „Ja, etwas Ungewöhnliches, etwas ganz Ungewöhnliches ist mir passiert! Ich kann kaum Herr meines Erstaunens werden!“
    „So sage schnell, ob es etwas Schlimmes ist! Es war ein fremder Mensch bei dir; ich habe ihn hier eintreten sehen.“
    „Oh, du brauchst ganz und gar nicht zu erschrecken. Es ist im Gegenteil etwas Hochwillkommenes, was dieser Fremde mir gebracht hat. Weißt du, wer er war?“
    „Wie soll ich es wissen? Er hatte das Aussehen eines ganz gewöhnlichen Arbeitsmannes.“
    „Eines Arbeitsmannes? Ja, ja, das mag sein; aber er war doch etwas ganz anderes. Denke dir, es war der Fürst des Elends!“
    Da machte sie eine höchst überraschte Miene und sagte:
    „Scherzt du? Der Fürst des Elends? Du lieber Gott, das wäre gerade der Richtige für unsere Gegend! Einen solchen Mann könnte niemand so sehr gebrauchen wie unsere arme Bevölkerung!“
    „Ja, er war es! Er ist da bei uns, in unserer Gegend, in unserem Ort, und Geld hat er mir gegeben, viel, sehr viel Geld!“
    Sie schlug die Hände zusammen und fragte:
    „Viel Geld? Für wen denn?“
    „Für die Hinterlassenen der toten Schreiberfrau und für – oh, was bin ich doch unaufmerksam! Ich muß ihm nach; ich muß mich bei ihm bedanken; ich muß ihn kennenlernen und mit ihm sprechen! Er soll erfahren, was uns hier not tut! Ich eile, du sollst nachher das Nähere erfahren!“
    Bei diesen Worten eilte er zur Tür hinaus. Vor dem Haus angekommen, blickte er die Gasse hinauf und hinab, konnte aber niemand bemerken. Da kam ein Mann den Fußweg herab und um die Ecke des Hauses. Er trug die dunkle Tracht der dortigen Gegend und hatte einen tiefschwarzen Vollbart. Seine Gestalt war beim Leuchten des Schnees ganz deutlich zu erkennen.
    „Guten Abend!“ sagte er. „Nicht wahr, heute wird hier im Ort ein Missionsvortrag gehalten?“
    „Ja, so etwas Ähnliches“, antwortete der Pfarrer reserviert.
    „Wo ist das?“
    „In der Schenke. Gehen Sie die Gasse hinab, so werden sie die erleuchteten Fenster des Saals sehen. Es ist fünf Uhr, und so wird dieser Vortrag wohl bald beginnen. Ist Ihnen vielleicht ein Mann begegnet?“
    „Nein, kein Mensch. Wie soll er ausgesehen haben?“
    Der Pfarrer beschrieb den Fürsten des Elends genau, aber der andere hatte ihn nicht gesehen. Der brave Geistliche ahnte nicht, daß er den Gesuchten vor sich habe. Während des kurzen Gesprächs mit seiner Schwester hatte Arndt doch Zeit gehabt, hinter dem Haus die Jacke umzuwenden und sowohl die Kopfbedeckung als auch den Bart zu vertauschen. Er bedankte sich bei dem Pfarrer für die erhaltene Auskunft und begab sich nach der Schenke.
    Dort herrschte ein sehr reger Betrieb. In der Gaststube gab es so viele Leute, daß sein Eintritt gar nicht beachtet wurde. Da waren diejenigen anwesend, deren Mittel es erlaubten, vor Beginn des Vortrags ein Glas Bier zu trinken.
    Er stieg zum Saal empor. Dort warteten bereits die ganz Armen der Ankunft Seidelmanns. Da gab es Gesichter, in denen der Hunger, die Kälte, die Sorge, das Elend zu lesen waren, junge und alte Leute, Burschen, welche infolge der ungesunden Schachtarbeit ein Jahrzehnt älter zu sein schienen, als sie wirklich waren; Mädchen und Frauen, deren einziges, ärmliches Gewand ihre Sonn- und Werktagskleidung war, Männer, welche trotz ihrer vierzig Jahre bereits in gebückter Haltung auf den Bänken saßen, und weißhaarige Greise, bei deren Anblick man sich gewundert hätte, daß sie so alt hatten werden können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie ihrem Alter nach eigentlich noch gar nicht Greise genannt werden konnten.
    Es war ein Podium errichtet, auf welchem ein Klavier stand. Auf dem letzteren lag eine Bibel und ein Gesangbuch, und zu beiden Seiten waren samtgepolsterte Sessel aufgestellt, für wen, das wußte jetzt noch niemand zu sagen.
    Ein leises Flüstern ging durch den Saal. Der Vortrag sollte, wie man sich mitteilte, eine Art Gottesdienst sein. Es war infolgedessen diesen guten Leuten zumute, als ob sie sich in der Kirche befänden; darum wagten sie nicht, ihre Unterhaltung in lauten Worten zu führen.
    Auch hier wurde Arndt gar nicht beachtet. Er schlüpfte in eine Ecke, in welcher er sich niederließ.
    Kaum war das geschehen, so kam ein Zug von wohl über einem Dutzend Personen

Weitere Kostenlose Bücher