61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Boden bestand aus Gummi. Die vergitterten Fenster wirkten bedrohlich. Aber es gab eine Heizung. Nicht unbedingt als freundliche Geste des Staates seinen Häftlingen gegenüber. Der Hersteller hatte sie für die Schulkinder eingebaut, für die solche Busse eigentlich bestimmt waren. Und der Staat hatte sie dort belassen. Das war alles. Eine Art passiver Wohltätigkeit. Die Heizung lief auf Hochtouren. Peterson hatte an alles gedacht.
Reacher und Knox sorgten dafür, dass jeder einen Platz erhielt; dann verschwanden sie wieder nach draußen in die Kälte und holten die Koffer aus dem Gepäckraum des verunglückten Busses. Die alten Leute würden Nachtwäsche, Medikamente und Toilettensachen sowie Kleidung zum Wechseln brauchen. Die vielen Koffer füllten die noch freien Sitze und den größten Teil des Mittelgangs. Knox setzte sich auf einen. Reacher blieb vorn neben dem Fahrer stehen – so dicht wie möglich an der Heizung.
Windstöße ließen den Bus schwanken, aber er hatte Schneeketten und kam gut voran. Nach sieben Meilen fuhren sie von der Interstate ab und kamen an einem verrosteten Vorfahrtsschild vorbei, das von einer Ladung Schrot durchlöchert war. Dort gelangten sie auf eine lange, gerade Landstraße. Auf einem Schild am Straßenrand stand: Strafvollzugsanstalt voraus. Keine Anhalter mitnehmen. Das Warnschild war ganz neu, glatt und reflektierend lackiert. Reacher sah es mit gemischten Gefühlen. Es würde seine Weiterreise morgen früh unnötig erschweren.
Die unvermeidliche Frage wurde weniger als eine Minute später gestellt. Eine Frau in der ersten Sitzreihe sah nach links, nach rechts, und fragte dann trotz ihrer Verlegenheit: »Wir werden doch nicht etwa ins Gefängnis gebracht?«
»Nein, Ma’am«, antwortete Reacher. »Wahrscheinlich in ein Motel. Dies war vermutlich der einzige verfügbare Bus.«
Der Busfahrer sagte: »Motels sind voll«, und verstummte wieder.
18.55 Uhr.
Noch siebenundfünfzig Stunden.
Die Landstraße verlief mehr als zehn Meilen weit schnurgerade. Die Sichtweite betrug nicht mehr als zwanzig Meter. Das Scheinwerferlicht wurde von dem fallenden Schnee zurückgeworfen, und was außerhalb seines Bereichs lag, ließ sich nur erraten. Flaches Land, vermutete Reacher, weil das Motorengeräusch immer gleich blieb. Keine Hügel, keine Senken. Nur Prärie, deren wenige Unebenheiten der Schnee – bis morgen früh bestimmt dreißig Zentimeter – ausgleichen würde.
Dann fuhren sie an einem weiteren Schild vorbei: Stadtgrenze Bolton. 12261 Einwohner. Also doch kein so kleines Nest. Nicht nur ein Punkt auf der Landkarte. Der Fahrer wurde nicht langsamer. Die Schneeketten rasselten weiter, erst eine Meile, dann noch eine. Dann hing das Leuchten einer Straßenlampe in der Luft. Nun folgte eine nach der anderen. Dann ein Streifenwagen, der so geparkt war, dass er die Einmündung einer Seitenstraße blockierte. Seine roten Blinkleuchten drehten sich träge. Der Wagen stand seit Langem dort. Die Reifenspuren waren fast zugeschneit.
Der Bus fuhr eine Viertelmeile weiter, bis er langsamer wurde und dreimal abbog. Rechts, links, wieder rechts. Reacher er kannte eine niedrige Mauer mit einer Schneehaube und einem Leuchtschild: Bolton Police Depart ment. Dahinter lag ein großer Parkplatz, zur Hälfte voll mit Privatwagen. Limousinen, Kombis, Pick-ups mit Doppelkabinen. Alle schienen erst vor Kurzem unterwegs gewesen und abgestellt worden zu sein. Frische Reifenspuren, eisfreie Windschutzscheiben, schmelzender Schnee auf den Motorhauben. Der Bus rollte an ihnen vorbei und hielt vor dem hell beleuchteten Eingangsbereich. Der Motor lief lärmend im Leerlauf weiter. Auch die Heizung arbeitete weiter. Das Dienstgebäude war lang und niedrig. Keine kleine Polizeistation. Ihr Flachdach trug einen Antennenwald, der aus dem Neuschnee ragte. Der Eingang wurde von zwei Mülltonnen flankiert, die Wache zu halten schienen.
Die Eingangshalle sah warm aus.
Der Busfahrer zog den Hebel, der die Tür öffnete. Ein Mann in einem Polizeiparka kam mit einer Schaufel aus der Eingangshalle und begann den Schnee zwischen den Mülltonnen wegzuräumen. Reacher und Knox machten sich daran, Koffer aus dem Mittelgang ins Freie und in die Polizeistation zu schaffen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, aber die Luft war noch kälter geworden.
Dann begann der Transfer der Busreisenden. Knox half ihnen die Stufen hinunter, Reacher begleitete sie auf dem Weg zum Eingang, der Mann im Parka nahm sie dort in Empfang.
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