61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Feldzüge planen.
In Hollands Dienstzimmer herrschte Stille. Die Tür war geschlossen, aber Reacher hörte Geräusche aus dem restlichen Dienstgebäude. Ein Kommen und Gehen, das fast eine halbe Stunde lang dauerte. Danach wieder Stille. Schichtwechsel, schätzte er. Ein unwahrscheinlicher Zeitpunkt für ein Drei-Schichten-Sys tem. Eher ein Zwei-Schichten-System. Die Tagschicht hatte Dienstschluss, die Nachtschicht begann ihren Dienst, vielleicht von 20.30 Uhr bis morgen früh um halb neun. Ungewöhnlich und wahrscheinlich nicht von Dauer. Wahrscheinlich ein Anzeichen für kurzzeitigen Stress.
Sie haben ihre eigenen Probleme.
Andrew Peterson tauchte kurz vor 21.20 Uhr wieder in der Polizeistation auf.. Er streckte den Kopf in Hollands Dienstzimmer, woraufhin der Chief mit dem Tatortfoto-Ordner zu ihm auf den Flur hinausging. Die improvisierte Besprechung der beiden dauerte weniger als fünf Minuten. Reacher vermutete, Peterson habe den Toten an Ort und Stelle gesehen und brauche deshalb die Fotos nicht zu studieren. Die beiden Cops kamen zurück und blieben in der Mitte des Raums stehen, wobei ihre Körpersprache laut und deutlich »Feierabend!« rief. Ein langer Tag, und morgen stand ihnen ein weiterer langer Tag bevor. Dieses Gefühl kannte Reacher aus der Zeit, als er noch einen Job gehabt hatte – ein Gefühl, das er an manchen Tagen geteilt hatte, aber nicht an solchen, an denen es in seinem Zuständigkeitsbereich tote Männer gegeben hatte.
Peterson sagte: »Okay, gehen wir.«
21.25 Uhr.
Noch vierundfünfzigeinhalb Stunden.
21.25 Uhr in Dakota war 22.25 Uhr in dem von Mauern umgebenen Komplex hundertfünfzig Kilometer von Mexico City entfernt. Sein Besitzer war ein auffällig kleinwüchsiger Mann namens Plato. Manche Leute glaubten, Plato sei Brasilianer und habe sich in brasilianischer Manier anstelle seines langen Taufnamens einen peppigen Kurznamen zugelegt. Wie das Fußballgenie Edson Arantes do Nascimento sich Pelé genannt hatte. Oder wie der Fußballer Ricardo Izecson dos Santos Leite sich Kaká nannte. Andere behaupteten, Plato sei Kolumbianer, was wegen der Branche, in der er tätig war, auf vielfältige Weise logischer gewesen wäre. Wieder andere bestanden darauf, er sei Mexikaner. Aber alle waren sich darüber einig, Plato sei klein, obwohl sich niemand getraut hatte, ihm das ins Gesicht zu sagen. In seinem mexikanischen Führerschein stand, er sei einen Meter sechzig groß. Tatsächlich war er in Schuhen mit Plateausohlen einen Meter fünfundfünfzig »groß« und ohne sie einen Meter fünfzig klein.
Der Grund, weshalb niemand sich traute, ihn in Hörweite klein zu nennen, war sein ehemaliger Geschäftspartner Martinez. Er hatte mit Plato Streit bekommen, war ausgerastet und hatte ihn einen Zwerg genannt. Martinez war bewusstlos ins beste Krankenhaus von Mexico City eingeliefert worden, dort in einen OP gebracht, auf den Tisch gelegt und in Vollnarkose versetzt worden. Vom Schädeldach weg war ein Maßband angelegt worden, und wo es einen Meter fünfzig anzeigte, waren seine Schienbeine etwas oberhalb ihrer Mitte markiert worden. Dann hatte ein OP -Team aus Ärzten und Schwestern ihm beide Beine sauber, ordentlich und fachgerecht amputiert. Nach zwei Wochen im Krankenhaus war Martinez mit einem Krankenwagen heimgebracht worden. Plato hatte ihm ein Genesungsgeschenk mit einer Karte überbringen lassen, auf der stand, er hoffe, sein Geschenk werde gewürdigt, in Ehren gehalten und ständig sichtbar aufgestellt. Wegen der besonderen Umstände wurde dieser Wunsch ganz richtig als Befehl aufgefasst. Martinez’ Leute hielten das Geschenk – wegen seiner Größe, seines Gewichts und weil es eine umherschwappende Flüssigkeit enthielt – für ein Aquarium mit Tropenfischen. Beim Auspacken erwies es sich tatsächlich als Aquarium. Aber ohne Fische. Es war voll Formaldehyd und enthielt Martinez’ Füße, Knöchel und Teile seiner Schienbeine von insgesamt fünfundzwanzig Zentimetern Länge.
Niemand erwähnte jemals wieder Platos Körpergröße.
Er hatte den Anruf aus der von Mauern umgebenen Stadtvilla entgegengenommen und eine Entscheidung binnen zwölf Stunden zugesagt, aber es lohnte sich eigentlich nicht, so viel Zeit für eine relativ unbedeutende Angelegenheit aufzuwenden, die einen relativ unbedeutenden Außenposten einer großen und komplexen internationalen Organisation betraf. Deshalb stand seine Entscheidung schon nach anderthalb Stunden fest: Er würde genehmigen, dass der Zeuge
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