61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Manche setzten sich auf die Bänke, andere blieben stehen, wieder andere liefen durcheinander. Der Eingangsbereich war ein schlichtes Quadrat mit Linoleumboden und glänzender Farbe an den Wänden. Vor der Rückwand stand eine Empfangstheke. Die Wand dahinter verschwand unter Korktafeln, an die Mitteilungen in allen möglichen Schriften und Formaten gepinnt waren. Auf dem Hocker hinter dem Empfang saß ein alter Mann in Zivil. Kein Cop, sondern irgendein Verwaltungsangestellter.
Der Kerl im Parka verschwand kurz und kam mit einem Mann zurück, den Reacher für den Polizeichef von Bolton hielt. Er trug ein Pistolenhalfter und eine Uniform mit zwei kurzen Stäben an den Kragenecken seines Uniformhemds. Wie die Rangabzeichen eines Hauptmanns der U. S. Army. Der Mann selbst sah aus, wie Peterson in ungefähr fünfzehn Jahren aussehen würde: groß und hager, leicht gebeugt und wegen seines Alters ein bisschen außer Form. Er wirkte müde und sorgenvoll, von Problemen geplagt und etwas wehmütig wie jemand, dem die Vergangenheit besser gefallen hat als die Gegenwart. Er stellte sich mit dem Rücken zur Theke auf und hob, um Ruhe bittend, die Hände, obwohl niemand redete.
Er sagte: »Willkommen in Bolton, Leute. Ich bin Chief Tom Holland und hier, um dafür zu sorgen, dass Sie heute Nacht alle gut und behaglich untergebracht werden. Die schlechte Nachricht ist, dass die Motels voll sind, aber die gute Nachricht ist, dass die Bürger von Bolton keine Menschen sind, die eine Gruppe von gestrandeten Reisenden wie Sie auf Feldbetten in einer Schulturnhalle schlafen lassen würden. Also haben wir herumtelefoniert, wer ein freies Gästezimmer hat, und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich über ein Dutzend Leute hier eingefunden haben, um Sie in ihrem Heim willkommen zu heißen.«
Das löste erst einmal leises Gemurmel aus. Überraschung, leichte Ungewissheit, dann Freude. Die Mienen der alten Leute hellten sich auf; sie lächelten und schienen sich ein wenig aufzurichten. Chief Holland führte ihre Gastgeber aus einem Nebenraum herein: fünf hiesige Ehepaare, dazu vier Männer und vier Frauen, die allein gekommen waren. Der Empfangsbereich war plötzlich überfüllt. Menschen liefen durcheinander, schüttelten Hände, stellten sich vor, bildeten kleine Gruppen und suchten in dem Kofferstapel ihr Gepäck.
Reacher zählte im Kopf mit. Dreizehn Kleingruppen, die dreizehn freie Gästezimmer bedeuteten, die wiederum genau den dreizehn Motelzimmern am Mount Rushmore entsprachen, für die Knox eine Reservierungsbestätigung vorgewiesen hatte. Peterson hatte an alles gedacht.
Nur Reacher stand nicht auf der Reservierungsbestätigung des Busfahrers.
Er beobachtete, wie die Eingangshalle sich leerte und die Leute paarweise und in Dreier- oder Vierergruppen zu den wartenden Fahrzeugen gingen. Das Ganze war in fünf Minuten vorbei. Reacher blieb allein zurück. Dann kam der Mann im Parka wieder herein, schloss die Tür und verschwand in einem abknickenden Korridor. Chief Holland kehrte zurück. Er nickte Reacher zu und sagte: »Kommen Sie, wir warten in meinem Büro.«
19.55 Uhr.
Noch sechsundfünfzig Stunden.
4
Hollands Dienstzimmer glich tausend anderen, die Reacher schon gesehen hatte. Schlichtes städtisches Dekor, ausgeschrieben, von dem billigsten Anbieter geliefert. Die Wände schlampig dick mit glänzender Farbe gestrichen, die an vielen Stellen getropft hatte. Der Fußboden aus Vinylfliesen, ein furnierter Schreibtisch, sechs Karteischränke aus einer früheren Generation in unebener Reihe unter einer schmucklosen Wanduhr. Auf dem Schrank unter der Uhr stand ein gerahmtes Foto. Es zeigte Chief Holland als kräftigeren, jüngeren Mann, der in besserer Haltung lächelnd neben einer Frau und einem Kind stand. Ein Familienfoto, sicher zehn oder mehr Jahre alt. Die Frau besaß markante Gesichtszüge und war auf blass-blonde Weise attraktiv. Vermutlich Mrs. Holland. Das Kind, ein Mädchen von acht oder neun Jahren, hatte ein fahles Gesicht mit wenig ausgeprägten Zügen. Vermutlich beider Tochter. Auf der Schreibtischplatte lagen zwei Würfel. Große Elfenbeinquader, von Alter und Gebrauch abgenutzt, die Punkte abgerieben und verblasst, das Material von Rillen durchzogen, wo das weiche Kalzium verschwunden war und härtere Mineralstoffe zurückgelassen hatte. Außer dem Foto und den Würfeln gab es in dem Raum jedoch nichts Persönliches. Alles andere war dienstlich nüchtern.
Holland setzte sich in den
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