61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Peterson bewegte sich nicht. Sie lag still auf dem Rücken und starrte zur Decke hinauf: fragend, nachdenklich, mit mal zusammengekniffenen, mal geweiteten Augen, als stünde dort oben etwas sehr Komplexes, schwer Verständliches geschrieben.
Er fragte: »Erinnern Sie sich an mich?«
Sie sagte: »Natürlich.«
»Ich habe schlimme Nachrichten, fürchte ich.«
»Andrew ist tot.«
»Ja, leider. Mein herzliches Beileid.«
»Wann?«
»Während der letzten Stunde.«
»Wie?«
»Er ist erschossen worden und war sofort tot.«
»Wer hat ihn erschossen?«
»Vermutlich der Kerl, nach dem alle fahnden.«
»Wo?«
»In den Kopf.«
Ihre Augen verengten sich. »Nein, ich meine: Wo ist’s passiert?«
»Entschuldigung. In der Stadt. Auf einem Parkplatz.«
»Was hat er dort gemacht?«
»Was seine Pflicht war. Er hat etwas kontrolliert.«
Sie sagte: »Er war ein guter Mann, wissen Sie.«
»Das weiß ich.«
»Ich habe zwei Jungen.«
»Ich weiß.«
»Was soll ich nur tun?«
»Sie müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Einen Tag, eine Stunde, eine Minute nach der anderen bewältigen. Eine Sekunde nach der anderen.«
»Okay.«
»Ab diesem Augenblick.«
»Okay.«
»Als Erstes müssen wir jemanden herholen. Sofort. Jemanden, der helfen und bei Ihnen bleiben kann. Weil Sie jetzt nicht allein sein sollten. Wen könnte ich also anrufen?«
»Warum ist Chief Holland nicht selbst gekommen?«
»Das wollte er. Aber er muss umfangreiche Ermittlungen in die Wege leiten.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Er kann diese Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
»Nein, ich meine, dass ich Ihnen nicht glaube, dass er kommen wollte.«
»Er fühlt sich verantwortlich. Das tut ein guter Chief immer.«
»Er hätte kommen sollen.«
»Wen kann ich für Sie anrufen?«
»Die Nachbarin.«
»Wie heißt sie?«
»Alice.
»Und ihre Nummer?«
»Kurzwahltaste drei am Telefon.«
Reacher schaute sich um. Im Küchenteil des großen Raums hing ein Wandtelefon. Ein schnurloses Telefon an einer schwarzen Konsole. Alle möglichen Knöpfe und eine große rote LED -Null auf einem Display. Keine Nachrichten. Er sagte: »Sie bleiben liegen, okay?«
Er ging in die Küche, nahm das Telefon aus der Halterung. Es hatte ein gewöhnliches Tastenfeld für gewöhnliche Rufnummern und eine Memory-Taste. Wahrscheinlich wandelte diese Taste das Ziffernfeld in Kurzwahltasten um. Die Ziffern eins und zwei bedeuteten vermutlich Andrew: sein Telefon im Dienst und sein Handy. Reacher drückte die Memory-Taste, dann die Drei. Er hörte, wie das Telefon wählte. Nach dem siebten oder achten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme. Verschlafen, aber beunruhigt. Deutlich besorgt. Vielleicht war ihr Mann unterwegs. Vielleicht hatte sie erwachsene Kinder an einem anderen Ort. Nächtliche Anrufe waren fast so schlimm, als würde an die Haustür geklopft.
Reacher fragte: »Sind Sie Alice?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
Reacher antwortete: »Ich bin bei Kim Peterson. Bei Ihrer Nachbarin. Sie braucht jemanden, der gleich zu ihr rüberkommt. Ihr Mann ist heute Nacht ermordet worden.«
Am anderen Ende herrschte zunächst Schweigen. Dann sprach Alice, aber Reacher verstand nicht, was sie sagte. Ihre Worte gingen in einem anderen Geräusch unter. Jäh. Laut. Von außerhalb. Heulend und klagend. Kreischend und flüsternd. An- und abschwellend. Das neue Geräusch rollte wie eine Woge über die verschneiten Felder. Es brandete gegen das Haus und schlug an die Fenster.
Die Gefängnissirene.
0.55 Uhr.
Noch drei Stunden.
38
Vor Reachers Augen stand ein verrücktes Diagramm, das dreidimensional explodierte: Raum, Zeit und Entfernung. Überall in der Stadt waren Cops unterwegs, bewegten sich willkürlich nach Norden, Süden, Osten, Westen, fuhren auf Hollands Anweisung zur Polizeistation, hörten alle die Sirene, änderten sofort ihre Richtung, auch Salters sieben Bewacher stürzten in die Nacht hinaus, verstärkten die allgemeine Verwirrung, rasten in Richtung Gefängnis davon und ließen Janet Salter schutzlos zurück.
Völlig allein und schutzlos und durch den letzten Angriff des unbekannten Schurken verwundbar, bevor er flüchtete, um sein Leben zu retten, oder sich wieder unauffällig einzuordnen versuchte.
Ich weiß, was ich zu tun habe, hatte Janet Salter gesagt.
Reacher steckte das Telefon in die Halterung zurück und wandte sich zu Kim.
»Ich muss fort«, sagte er. »Alice ist unterwegs.«
Er öffnete die Haustür und blieb stehen. Die Sirene
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