61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
jedem Schritt aus, bis seine Absätze wieder Halt fanden, wo ein Kettenglied das Eis hatte zersplittern lassen. Er atmete schwer und glaubte zu spüren, wie die eisige Luft seine Lunge verätzte. Er keuchte und hustete.
Noch zwei Meilen. Bestimmt eine gute halbe Stunde. Viel zu lange. Er hoffte, einer der Polizeibeamten werde den Mut gehabt haben, bei ihr zu bleiben. Einer der sieben. Eine der Frauen. Zum Teufel mit den Vorschriften. Zum Teufel mit dem Krisenplan. Andrew Peterson war tot. Noch warm. Allein das war Rechtfertigung genug. Bestimmt würde einer den Mumm haben, den Feds zu sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren. Wenigstens einer. Vielleicht auch mehr. Vielleicht zwei oder drei.
Vielleicht alle.
Oder vielleicht keiner.
Ich weiß, was ich zu tun habe, hatte Janet Salter gesagt.
Wusste sie das?
Hatte sie’s getan?
Reacher stapfte weiter. Er hatte Gegenwind. Eiskristalle prasselten an seinen Parka. Seine Füße und Hände waren längst gefühllos. Die Tränenflüssigkeit in seinen Augen schien gefrieren zu wollen.
Vor ihm tauchte ein einzelnes, von Parkplätzen umgebenes Gebäude auf, eine Bank. Der Stadtrand. Das erste Haus. Auf einer hohen Betonsäule eine Anzeige mit roten Ziffern. Zeit und Temperatur. 1.21 Uhr. Minus 34,5 Grad.
Er hastete so schnell es ging weiter und hatte das Gefühl, besser voranzukommen. Auf beiden Straßenseiten folgte ein Gebäude dem anderen: Supermarkt, Apotheke, Partyservice, Videothek, Autozubehör, UPS , Spedition, chemische Reinigung. Alle weitläufig und mit Parkplätzen. Alle für Kunden, die mit dem Auto kamen. Reacher eilte weiter, schwitzte und zitterte gleichzeitig. Die Gebäude rückten näher zusammen und wurden einstöckig. Die Innenstadt. Hundert Meter voraus lag die große Kreuzung. Rechts ging’s zum Gefängnis, links zur Interstate. Er benutzte eine Querstraße als Abkürzung. Bog an der Polizeistation nach Süden ab. Der Wind heulte in den Antennen auf ihrem Dach.
Noch eine Meile.
Er trabte mitten auf der Hauptstraße weiter. Eine einsame Gestalt. Ungelenk. Kurze Schritte. Andere ließ das Eis nicht zu. Er nahm seine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Seine Lunge brannte. Um ihn herum waren alle Fenster dunkel. Er bewegte sich als einziges Wesen in einer gefrorenen weißen Welt.
Reacher passierte das jetzt dunkle und leere Familienrestaurant. Es lag still und geschlossen da. Die geisterhaften umgedrehten Stühle auf den Tischen glichen einer schweigenden Menge mit flehend erhobenen Armen. Noch vierhundert Meter bis zu Janet Salters Straße. Fünfzig Sekunden für einen guten Sportler. Reacher brauchte drei Minuten. Der Streifenwagen, der die Einmündung blockiert hatte, war längst fort. Nur seine Reifenspuren waren noch zu sehen. Leer wie eine Eisenbahnweiche. Reacher überwand sie mühsam. Dann folgte er der Straße. Am ersten Haus vorbei, auch am nächsten und übernächsten. Der Wind heulte durch immergrüne Pflanzen. Eisplatten knackten unter seinen Stiefeln.
Janet Salters Einfahrt.
Licht im Haus.
Keine Bewegung.
Kein Laut.
Nichts in Unordnung.
Alles ruhig.
Er ruhte sich kurz aus – mit beiden Händen auf den Knien, nach Atem ringend.
Dann hastete er weiter.
39
Reacher stieg Janet Salters Veranda hinauf. Die Haustür war abgesperrt. Er zog an dem Klingelgriff. Das dünne Drahtseil kam aus dem Bronzezylinder. Die Glocke bimmelte: gedämpft und diskret, tief im Inneren des stillen Hauses.
Keine Reaktion.
Was gut war. Im Keller würde sie die Glocke nicht hören. Und selbst wenn sie das Klingeln hörte, würde sie nicht an die Haustür kommen.
Das hoffte er.
Ich weiß, was ich zu tun habe, hatte sie gesagt . Der Keller, die Waffe, das Kennwort.
Er spähte durch den Glaseinsatz der Haustür. In der Eingangshalle brannte Licht. Er sah alles bläulich und leicht verzerrt: den Stuhl, das Telefontischchen, die Treppe, den Orientteppich, die Gemälde, den leeren Garderobenständer.
Keine Bewegung. Niemand zu sehen. Keine auffällige Veränderung.
Alles ruhig.
Dreiundzwanzig mögliche Zugänge, wie er schon früher ermittelt hatte, davon fünfzehn praktikabel und acht unkompliziert. Er trat von der Tür zurück, überquerte die Veranda, ging die Stufen hinunter und stapfte durch tiefen Pulverschnee zur Rückseite des Hauses. Von der ersten Überprüfung wusste er, dass es sich bei dem Schloss der aus der Küche in den Garten führenden Tür um ein massives Messingteil handelte, dessen Stahlzunge in eine schwere Eisenplatte
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