61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
eingriff. Die Platte war in einen lackierten Türrahmen aus hundertjährigem Fichtenholz eingelassen. Die Haustür selbst saß in einem exquisiten Rahmen aus fein gemasertem und lasiertem Kastanienholz. Schwerer zu ersetzen. Daher war es rücksichtsvoll, hinten einzubrechen.
Reacher baute sich auf, holte tief Luft und trat mit dem Stiefelabsatz gegen das Holz dicht unter dem Schloss. Dieser eine Tritt genügte. Er war ein großer Mann, und er machte sich Sorgen, und er fror zu sehr, um Geduld zu haben. Die Tür blieb heil, aber die in den Holzrahmen eingelassene Platte wurde herausgerissen und fiel scheppernd zu Boden. Die Tür flog auf.
»Ich bin’s!«, rief er. »Reacher.« Die Klingel hatte sie vielleicht nicht gehört, aber das Splittern des Holzes musste sie eigentlich mitbekommen haben. Er wollte nicht, dass sie einen Herzanfall erlitt.
»Ich bin’s!«, rief er noch mal.
Er trat in die Küche. Schloss die Tür bis auf einen Spalt. Alle vertrauten Geräusche und Gerüche drängten sich ihm wieder auf. Das leise Zischen in den Wasserrohren, der jetzt kalte Perkolator. Er ging in den kleinen Vorraum hinaus und machte Licht. Die Tür unten an der Kellertreppe war geschlossen.
»Janet?«, rief er. »Ich bin’s – Reacher.«
Keine Antwort.
Er versuchte es nochmals, diesmal lauter. »Janet?«
Keine Antwort.
Er stieg die Treppe hinunter. Klopfte energisch an die Kellertür.
Er rief: »Janet?«
Keine Antwort.
Er drückte die Klinke herab.
Die Tür ging auf.
Er streifte den rechten Handschuh ab und zog seinen Revolver. Betrat den dunklen Keller. Horchte angestrengt. Kein Geräusch außer dem Brausen des Heizkessels und dem Brummen der Pumpe. Er tastete die Wand neben sich ab, fand den Lichtschalter und knipste das Licht an.
Der Keller war leer. Hier unten gab es nur die plötzlichen Schlagschatten der massiven Stützbalken. Er spähte in das abgetrennte Heizungsabteil. Ebenfalls leer bis auf das alte grüne Ungetüm, das laut dröhnend Öl verbrannte.
Er ging wieder zur Tür. Starrte übers Korn auf dem Revolverlauf hinweg die Treppe hinauf. Oben war niemand. Keine Bewegung, kein Laut.
Er rief: »Janet?«
Keine Antwort.
Nicht gut.
Er stieg erneut die Treppe hinauf. Durchquerte die Küche, um in die Eingangshalle zu gelangen. Dort erwartete ihn das Bild, das er durch den Glaseinsatz der Haustür gesehen hatte. Alles still. Der Stuhl, das Tischchen, der Teppich, die Gemälde, der Garderobenständer. Keine Bewegung. Keine Unordnung.
Er fand sie in der Bibliothek. Sie saß in ihrem Lieblingssessel, ein Buch auf den Knien. Die Augen offen, in der Stirnmitte ein Einschussloch.
Wie ein drittes Auge.
Fast sicher neun Millimeter.
Reachers Verstand blieb lange wie gelähmt. Es war sein Körper, der schmerzte. Vom Auftauen. Seine Ohren brannten, als würden sie mit einer Lötlampe behandelt. Dann seine Nase, die Wangen, die Lippen, das Kinn, die Hände. Er saß auf dem Stuhl am Telefon, wiegte sich vor und zurück und umschlang vor Schmerzen seinen Oberkörper mit den Armen. Seine Füße begannen wehzutun, dann seine Rippen, die Knochen in seinen Armen und Beinen, als wären sie gebrochen und zersplittert.
Janet Salter hatte keinen dicken Schädel gehabt. Ihr Hinterkopf war über die Rückenlehne des Sessels verteilt, die Gehirnmasse tief in den Schlitz getrieben, den das austretende Geschoss in die Polsterung gerissen hatte.
Zum Lesen habe ich reichlich Zeit, hatte sie gesagt, wenn dieser Rummel vorbei ist.
Reacher stützte den Kopf in die Hände. Stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte zu Boden.
Ich bin sehr privilegiert, hatte sie gesagt. Nicht jeder bekommt Gelegenheit, nach seinen Prinzipien zu leben.
Er rieb sich die Augen. Danach hatte er Blut an den Händen. Die vom Wind getriebenen Eiskristalle hatten sein Gesicht wie tausend Nadelstiche getroffen. Nicht zu spüren, weil es vor Kälte starr gewesen war. Jetzt quollen aus allen winzige Tropfen Blut. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Handflächen, als würde er sich waschen. Dann rieb er die Hände an seiner Hose ab. Starrte wieder zu Boden. Verfolgte das in gedämpften Farben gehaltene Muster des Orientteppichs bis zur Mitte und sah dann wieder auf. Janet Salter erwiderte seinen Blick. Sie saß ihm in gerader Linie schräg gegenüber. Links am Treppenpfosten vorbei, durch die Tür der Bibliothek, quer durch den Raum, zu ihrem Sessel. Unter der Einschusswunde in ihrer Stirnmitte war ein kleines Komma entstanden. Eigentlich kein Blut,
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