61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Schneetreiben nahm ihm die Sicht. Waagrecht fliegender Schnee prasselte gegen sein Gesicht. Er orientierte sich am nächsten Begrenzungspfosten und rannte dreißig Schritte weit zurück, auf leicht gekrümmter Bahn in Richtung Bankett. Dreißig Schritte waren ungefähr siebenundzwanzig Meter. Siebenundzwanzig Meter in der Sekunde entsprachen sechzig Meilen in der Stunde, und es würde genügend Verrückte geben, die mit sechzig durch den Schneesturm rasten. Er bückte sich und rammte den Stahlstift einer Warnfackel in den Asphalt. Die rote Flamme entzündete sich automatisch und brannte weit sichtbar. Er rannte weiter, wieder dreißig Schritte, und entzündete die zweite Fackel. Rannte noch mal dreißig Schritte und benutzte die dritte Fackel, um eine Warnsequenz zu vervollständigen: drei Sekunden, zwei, eine, ausweichen, verdammt noch mal!
Dann lief er zurück zum Bus und hämmerte an die Tür, bis der Fahrer seine Erstversorgung unterbrach und ihm die Tür öffnete. Reacher kletterte hinein. Er war durchgefroren und sein Gesicht fast gefühllos. Seine Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Im Innern des Busses wurde es bereits kühler. Auf einer Seite waren die Fenster schon fast zugeschneit. Er sagte: »Sie sollten den Motor laufen lassen, damit die Heizung funktioniert.«
»Darf ich nicht. Die Treibstoffleitung kann gerissen sein. Als wir über den Asphalt geschrammt sind.«
Reacher entgegnete: »Ich hab draußen nichts gerochen.«
»Ich darf’s nicht riskieren. Bis jetzt leben noch alle. Ich will nicht, dass sie im Bus verbrennen.«
»Sollen sie lieber erfrieren?«
»Übernehmen Sie die Erste Hilfe. Ich muss rumtelefonieren.«
Also ging Reacher nach hinten und begann, nach den alten Leuten zu sehen. Der Fahrer hatte nur die beiden ersten Reihen geschafft. Das war offensichtlich. Alle vier Fahrgäste auf den Fensterplätzen wiesen Heftpflasterverbände auf kleinen Platzwunden von den Fensterrahmen auf. Sei vorsichtig, wenn du dir etwas wünschst. Bessere Aussicht, aber höheres Risiko. Eine Frau hatte ein zweites Pflaster im Gesicht – wahrscheinlich an der Stelle, wo der Kopf ihres Mannes an ihren geknallt war, als sein Körper herumgeworfen wurde.
Der erste Knochenbruch schien in der dritten Reihe aufgetreten zu sein, bei einer zierlichen alten Dame, die zart wie ein Vogel wirkte. Sie war mit der Schulter an den Fensterrahmen geprallt und hatte sich das linke Schlüsselbein gebrochen. Das erkannte Reacher an der Art, wie sie sich den Arm hielt. Er fragte: »Ma’am, darf ich mir das ansehen?«
Sie antwortete: »Sie sind kein Arzt.«
»Ich habe in der Army eine Ausbildung bekommen.«
»Waren Sie Sanitäter?«
»Ich war Militärpolizist. Wir wurden medizinisch ausgebildet.«
»Mir ist kalt.«
»Schock«, meinte Reacher. »Und es schneit.«
Sie wandte ihm den Oberkörper zu – ein stummes Einverständnis. Reacher tastete ihr Schlüsselbein unter der Bluse ab. Der Knochen war bleistiftdünn und in der Mitte gebrochen. Ein glatter Bruch. Kein Splitterbruch.
Sie fragte: »Ist’s schlimm?«
»Sieht gut aus«, sagte Reacher. »Das Schlüsselbein hat seinen Zweck erfüllt. Der Knochen bricht, damit Ihre Schulter und Ihr Genick keinen Schaden nehmen. Er heilt gut und schnell.«
»Ich muss ins Krankenhaus.«
Reacher nickte. »Wir bringen Sie hin.«
Er ging weiter. In Reihe vier gab es ein verstauchtes Handgelenk, in Reihe fünf ein gebrochenes. Dazu kamen insgesamt dreizehn Schnittwunden, viele harmlose Prellungen und zahlreiche Schockreaktionen.
Die Temperatur fiel rasch.
Durch die hinteren Seitenfenster konnte Reacher die Warnfackeln sehen. Sie brannten noch immer: drei deutlich erkennbare hellrote Flaumkugeln, die in dem wirbelnden Schnee glüh ten. Keine sich nähernden Scheinwerfer. Auch nicht auf der Gegenfahrbahn. Überhaupt kein Verkehr. Er ging mit gesenktem Kopf nach vorn zum Fahrer. Der Mann saß auf seinem Platz, hielt sein aufgeklapptes Mobiltelefon in der rechten Hand, starrte durch die Frontscheibe und trommelte mit den Fingern der Linken aufs Lenkrad.
Er sagte: »Wir haben ein Problem.«
»Welche Art Problem?«
»Ich habe die 911 angerufen. Die ganze Highway Patrol ist sechzig Meilen nördlich oder sechzig Meilen östlich von hier im Einsatz. Anscheinend ziehen zwei große Stürme heran. Einer aus Kanada, der andere aus der Seenregion. Sie haben schon Massenunfälle verursacht. Alle Abschleppwagen sind unterwegs. Dort gibt’s Unfälle mit hundert Fahrzeugen. Diese Interstate
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