617 Grad Celsius
Gedanken waren bei Bernd Winkler. Er durfte nicht sterben.
Schließlich kroch sie ins Bett. Sven löschte das Licht und legte sich neben sie. Es war tiefe Nacht, Regen prasselte auf die Sträucher im Hinterhof. Anna war froh, dass Sven keinen Annäherungsversuch unternahm. Sie wäre nicht mehr in der Stimmung dafür gewesen.
Als sie erwachte, hatte sie keine Ahnung, wie spät es war. Draußen ratterte ein Zug vorbei. Ein seltsam fahler Lichtschein drang ins Zimmer. Zu schwach, um das Zifferblatt der Armbanduhr erkennen zu können. Anna wälzte sich herum, um eine Stellung zu finden, in der sie wieder einschlafen konnte.
Neben ihr ging Svens gleichmäßiger Atem. Am liebsten hätte sie seinen Arm um sich geschlungen und sich eingerollt wie ein kleines Kind. Sie sehnte sich nach ihrem Vater.
Irgendwo brummte ein einsames Auto. Das ungewöhnliche Leuchten vor dem Fenster irritierte sie. Anna begann, ihr Schlafmittel zu vermissen. Der Wein, den sie sich mit Sven geteilt hatte, genügte nicht zur Betäubung. Es war ein Fehler gewesen, das gesamte Noctumed ins Klo zu spülen.
Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit Bernd Winkler. Wir waren immer Vater und Tochter, egal, wie der Test ausgefallen ist. Sag mir bitte, dass das so bleibt . Warum hatte sie gezögert, die einzig richtige Antwort zu geben? Allein deshalb durfte er nicht sterben: Damit sie es nachholen konnte, seine Bitte zu erfüllen.
Anna wechselte in die Rückenlage, schließlich sah sie ein, dass es keinen Zweck hatte und sie allenfalls den Kerl an ihrer Seite wecken würde. Vorsichtig löste sie sich aus der Bettdecke und stand auf. Eine Diele knarrte, als sie zum Fenster schlich. Ein kurzes Rascheln, Sven bewegte sich, dann war es wieder still bis auf das Atmen des Schlafenden.
Anna erschrak, als sie den Mond sah. Er war voll und rot. Wolkenfetzen zogen über ihn hinweg, zwischendurch glühte er als blutige Scheibe am Himmel. Anna erinnerte sich an die Medienberichte. Die Mondfinsternis: Der Trabant musste den Kernschatten erreicht haben, in dem ihn nur noch der langwellige Anteil des Sonnenlichts traf, das die Erdatmosphäre ablenkte.
Eine Weile beobachtete Anna das Schauspiel. Der Mond wurde dunkler, dann hellte ein ziegelrotes Licht den östlichen Rand auf. Annas Füße wurden kalt auf dem blanken Holzboden. Sie setzte sich an den Tisch und rieb die Zehen warm, die Augen nicht vom Himmel wendend.
Sie musste mit dem Ellbogen die Maus oder die Computertastatur berührt haben, denn plötzlich knisterte es und die Startseite der Silverhammer -Homepage erschien auf dem Bildschirm. Zugleich schob sich eine neue Regenwolke vor den Mond.
Anna wartete, doch der Blutmond blieb vorerst verschwunden. Sie ahnte, welche Ängste eine Finsternis ausgelöst haben musste, als sich die Leute den Lauf der Himmelskörper noch anhand von Mythen erklärten. Tiere wurden geopfert, damit der Drache den Mond wieder ausspuckte. Menschen wurden hingerichtet, um einen wütenden Gott milde zu stimmen und den Weltuntergang abzuwenden.
Weil sie sich immer noch nicht müde genug fühlte, um ins Bett zurückzukehren, surfte sie durch die Website der Band. Sie las Kritiken diverser Lokalblätter, die ins Netz gestellt worden waren, um mögliche Konzertveranstalter aufmerksam zu machen. Ein Provinzjournalist lobte einen Silverhammer -Auftritt in höchsten Tönen und löste in Anna die Erinnerung an das Konzert vor mehr als zwei Jahren aus.
Sven wurde namentlich erwähnt und als ›Maestro an der E-Gitarre‹ bezeichnet. Anna war stolz auf ihn. Er hätte tatsächlich mehr verdient als den Job des Fahrers und Büroboten bei ihrem Vater.
Sie las die Unterzeile des Artikels und erstarrte. Straubinger Tagblatt.
Sich durch das Menü klickend fand sie unter Archiv einen Link, der zur Liste der Tourneedaten führte, und scrollte nach unten, bis sie den Tag fand, den Bruno ihr am Telefon genannt hatte.
Tatsächlich: 14. Oktober 2004 – Straubing, Alter Schlachthof, Heerstr. 35, 20 Uhr .
Brunos Worte: Der junge Mann, der in der Einliegerwohnung im Souterrain seines Elternhauses erschlagen wurde. Seine Mutter hat ihn am Morgen des 15. Oktobers entdeckt .
Sie erinnerte sich an die Tatortbilder: ein nackter Körper vor einem Heizkörper, die Füße hochgebunden. Fesseln aus Paketband. Blutunterlaufene Augen in einem gemarterten Gesicht.
Anna klickte in der Kopfzeile auf Bearbeiten , wählte Auf dieser Seite suchen und tippte Reutlingen in die Tastatur.
Wieder wurde sie fündig: 7.
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