617 Grad Celsius
»Das ist indiskret!«
Sie sprang auf, um ihm den Apparat zu entreißen. Der lange Kerl wehrte sie ab und studierte die Nachricht auf dem Display.
»Was schreibt der Typ da?«, murmelte er. »Was zum Teufel hast du ihm gesagt?«
»Wovon redest du?«
»Spionierst du mich aus, oder was?«
»Ich doch nicht!«
Anna wollte zu einer Erklärung ansetzen über Kollegen, die alles und jeden ohne echten Grund verdächtigten. Über Mordermittler, die sich von der Staatskanzlei einspannen ließen. Über Kommissare, denen man kein Wort glauben durfte.
»Verdammte Lügnerin!«, stieß Sven hervor und versetzte ihr einen Schlag, der sie gegen das Regal aus Glas und Ziegelsteinen krachen ließ.
Während CD-Hüllen auf sie herabregneten, verlor Anna das Bewusstsein.
65.
Bruno stoppte an einer Straßenbahnhaltestelle, um Costa Tönissen aussteigen zu lassen. Er blickte dem schwulen Jungen aus Kaarst hinterher, der sich in den letzten Minuten sehr still verhalten hatte. Diese Leute gingen mit ihrem ungezügelten Lebenswandel ein beträchtliches Risiko ein, fand Bruno: Enttäuschungen, Krankheiten, Gewalt. Aber ein wenig beneidete er den Burschen auch um die Freiheit, die er sich herausnahm.
Er wandte sich an den Kollegen. »Annas Zeuge, dieser Sven. Wie kommt dein Münchner LKA-Kollege ausgerechnet auf ihn?«
»Anna sagte, sie sei gerade bei ihm. Kann es sein, dass sie sich privat kennen?«
»Keine Ahnung.«
»Erinnerst du dich daran, was Anna genau gesagt hat?«
»Ich hab es mir oft genug angehört.«
»Daniel habe einen Unbekannten angesprochen, nachdem der ihn eine Weile angestarrt hat. Daraufhin habe der Unbekannte auffällig nervös reagiert, weil Daniel ihn in Verlegenheit gebracht habe.«
»Ja, und?«
»Dieser Sven sieht zu, wie ein Unbekannter an einem der Nachbartische das spätere Mordopfer anglotzt, bis Daniel den Typen anspricht? Und Sven will aus der Distanz erkannt haben, dass Daniel den unbekannten Dritten in Verlegenheit gebracht hat? Nein, mein Lieber.«
»Du meinst …«
»Sven war dieser Unbekannte selbst. Unser Münchner Fachmann nennt das einen typischen Fall von Projektion. Der Täter spaltet seine Gefühle ab, weil er sie selbst für verwerflich hält. Er distanziert sich davon und projiziert das eigene Täterverhalten und die eigene Motivation auf einen Dritten, den er erfindet. Das kann so weit gehen, dass er fest an die Existenz dieses Unbekannten glaubt.«
»Ein Schizo?«
»Wer könnte etwas über diesen Sven wissen oder uns sagen, wo Anna steckt?«
Bruno überlegte: Die Kollegin war ein Jahr weg gewesen. Sie hatte derzeit keinen festen Freund. Ihre Mutter lebte normalerweise in Köln und hielt sich momentan in irgendeiner Klinik auf. Der Vater war die einzige erreichbare Bezugsperson, von der er wusste.
Sie fuhren ins Präsidium, sprinteten die Treppe hoch und enterten Brunos Zimmer am Ende des Flurs, wo sie den Computer starteten. Einwohnermeldeamt und Straßenverkehrsamt der Stadt verzeichneten keinen Bernd Winkler.
Bruno fiel ein, dass Anna erwähnt hatte, dass sie vorübergehend in Holzbüttgen untergekommen war, einem Ortsteil der Nachbarstadt Kaarst, zu deren Dateien sie keinen Zugriff besaßen. Er hätte sich an die Kreispolizeibehörde Neuss wenden können, doch das erschien ihm zu umständlich.
Schmiedinger versuchte erneut, Anna auf ihrem Handy zu erreichen. Dann gab er auf und schimpfte: »Ich kann die verdammte Mailboxansage nicht mehr hören!«
Im Internet fand Bruno die Privatadresse des Abgeordneten und mehrere Nummern, die zu Büros im Landtag, der Parteizentrale und einem Wahlkreisbüro im Ruhrgebiet gehörten. Bruno diktierte sie Schmiedinger, der jedoch unter keiner Nummer einen Ansprechpartner erreichte. Kein Wunder, um diese Uhrzeit.
»Lass uns nach Holzbüttgen fahren«, schlug der Kollege aus Straubing vor.
Bruno winkte ab. Er hatte eine Webseite des Landesparlaments von Nordrhein-Westfalen entdeckt, auf der unter Winklers Namen auch der seiner Sekretärin verzeichnet war.
Julietta Cremers.
In der Hoffnung, dass die Frau in der Stadt wohnte, durchwühlte Bruno das Telefonbuch und wurde tatsächlich fündig. Er schnappte sich den Hörer und tippte die Nummer in den Apparat auf seinem Tisch.
Das Freizeichen.
Er wollte bereits auflegen, als sich eine besorgt klingende Frauenstimme am anderen Ende meldete. »Ja? Anna, bist du’s? Wie geht es ihm?«
Bruno nannte seinen Namen. »Ich bin ein Kollege von Anna und muss wissen, wo sie sich gerade aufhalten
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