617 Grad Celsius
November 2004 – Reutlingen, Café Nepomuk, Unter den Linden 23, 21 Uhr .
Ihr Herz pochte bis in den Hals.
Sie wandte sich um. Sven schlief tief und fest.
Anna überlegte und rief sich zur Ruhe. Das Reutlinger Datum passte nicht zu den Taten des Beißers. Sie hatte Sven Arnold voreilig verdächtigt.
Brunos Bemerkung: Der Fall ist ein knappes Jahr alt und die Kollegen wollten ihn schon als unerledigt in die Aktenhaltung geben .
Ein knappes Jahr, also Mai bis Juli letzten Jahres. So weit reichte die Terminliste nicht zurück.
Anna klickte auf den letzten Punkt der Menüleiste: Gästebuch.
Wieder wählte sie die Suchfunktion, gab Reutlingen ein und drückte auf Enter.
Weiße Schrift auf schwarzem Grund. Der Name der Stadt war blau markiert. Anna las die Eintragung einer Inga.
Hi, echt geiles konzert gestern in reutlingen. der gitarrist hat die hammer ausstrahlung auf der bühne. drei zugaben waren voll fett. ihr müsst bald wieder kommen!
Anna hielt die Luft an, als ihr Blick auf das Datum des Gästebucheintrags fiel.
Es war der 20. Mai 2004. Die Band hatte den Ort nicht nur im Herbst besucht, sondern auch schon im Frühjahr.
Der Fall ist ein knappes Jahr alt. Eine Leiche in einem Waldstück, die kopfüber von einem Ast baumelte. Und wieder ein junger Schwuler.
Anna vernahm ein Pfeifen und erkannte, dass es ihr eigener Atem war, den sie stoßweise durch die Kehle presste.
Zitternd gab sie Düsseldorf in die Suchmaske ein. Nichts.
Sie versuchte es mit Düsseld. Ebenfalls kein Erfolg.
Dritter Anlauf: Ddorf.
Der Text raste vorbei und stoppte. Die kleinen, weißen Buchstaben flackerten vor Annas Augen. Timo aus Ddorf, so lautete der Absender eines weiteren Gästebucheintrags. Er stammte von Mitte Januar 2003.
Anna las:
Voll der Hammer euer Gig am letzten Freitag! Kann jedem Aficionado geiler Musik nur den nächsten Silverhammer- Auftritt am 30. Januar in Ratingen empfehlen.
In der Nacht zum 31. Januar war Daniel ermordet worden. Ratingen war die Nachbarstadt – ihr Zentrum lag keine fünfzehn Kilometer vom Tatort entfernt.
Dreimal hatte die Band in der Nähe eines Mordes an einem jungen Homosexuellen gastiert. Das konnte kein Zufall sein.
Ihr fielen Svens Worte ein, mit denen er den ominösen Unbekannten in der Altstadtkneipe beschrieben hatte: Ich dachte mir noch, dass es unverantwortlich von Daniel ist, jemanden so in Verlegenheit zu bringen.
Er hatte sich selbst damit gemeint.
Anna fuhr herum, als hinter ihr eine Diele knarrte.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Sven und trat ans Fenster. »Die Mondfinsternis. Schon gesehen?«
»Ja, gespenstisch.« Verstohlen bewegte Anna die Maus und schloss das Gästebuch.
»Früher hätten wir an den Mond geglaubt. Dass er uns beeinflusst oder so. Wäre schön, wenn er Bernd wieder gesund machen könnte.« Sven blickte hinaus in die Nacht.
Fieberhaft kehrte Anna zur Startseite zurück – der Schriftzug und das Foto.
Der große Schatten am Fenster sagte: »Hast du dir schon mal überlegt, dass verschiedene Welten parallel existieren? Was wir vom Mond sehen, ist etwa eine Sekunde alt. Manche Sterne sehen wir, wie sie vor Millionen von Jahren leuchteten. Aber alles zur gleichen Zeit. Wenn wir in den Himmel schauen, blickt uns die Vergangenheit in ihren verschiedensten Formen entgegen. Parallele Welten, verstehst du, was ich meine?«
Anna entgegnete: »Mir geht nicht aus dem Kopf, was du über Daniel Lohse gesagt hast, Sven. Dass du ihn mit einem Mann gesehen hast, der vielleicht sein Mörder war.«
»Ja. Wahrscheinlich war das einer, der mit dem Leben unzufrieden ist. Er will hoch hinaus und den Leuten gefallen, aber sie stoßen ihn ab, weil er im Heim aufgewachsen ist und sich im normalen Leben nicht so gut bewegen kann. Und dann trifft er diesen jungen Maler, dem alles nachgeworfen wird. Der spielend alles erreicht, was der andere nicht zu Stande kriegt.«
Er redet tatsächlich über sich, dachte Anna.
In der Küche gab ihr Handy Laut.
Sven lief los. »Ich bring’s dir.«
Anna zwang sich zur Ruhe. Er wusste nicht, dass sie es wusste.
Sie würde so bald wie möglich die Kollegen verständigen. Spätestens am Morgen, wenn sie die Wohnung verlassen hatte. Bis dahin musste sie irgendwie die Nacht überstehen.
Sven trat in die Tür. »Hat aufgehört zu klingeln, als ich es fand. Aber du hast auch eine SMS bekommen.« Er hielt ihr Mobiltelefon in der Hand und drückte auf die Tasten. »Schickes Teil«, bemerkte er.
»Hey«, protestierte Anna.
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