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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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»Intensivstation, dritter Stock. Aber ich muss erst mal anrufen.« Dann bemerkte er Sven und das Auto vor der Tür. »Sie können da nicht parken. Sie behindern die Ambulanz.«
    »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«, fragte Sven.
    Anna lief zu den Aufzügen und drückte den Knopf.
    »Warten Sie!«, rief ihr der Dicke hinterher.
    Der Beschilderung folgend, gelangte sie in eine Art Warteraum. Die Aufschrift an der gegenüberliegenden Tür besagte, dass man klingeln musste und die Station ohne Schutzkleidung nicht betreten durfte. Anna öffnete einen Schrank und entdeckte Kittel, Mundschutz und Überzieher für die Schuhe. Sie legte das Plastikzeug an, bis sie aussah wie eine Ermittlerin am Tatort.
    Die Klingel ignorierend drückte Anna die Stationstür auf.
    Ein heller Flur, weiße Vorhänge zur Rechten. Anna lugte in Einzelzellen voller piepsender Apparate. Ein Opa schnarchte, eine Frau röchelte, ein Kind wimmerte leise vor sich hin. In der vierten Kabine stand ein leeres Bett. Anna lief weiter. Der Gang mündete in ein weiteres Zimmer.
    Bernd Winkler lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Ein dünnes Laken bedeckte den Körper. Der Atem ging stoßweise, aber regelmäßig. Schläuche und Kabel verbanden ihn mit Geräten und einer Infusionsflasche. Hinter ihm ein Regal mit Monitoren. Blinklichter und gezackte Kurven, denen Anna zu entnehmen glaubte, dass die Herzfrequenz normal war.
    »Papa?«, sprach sie ihn leise an.
    Bernd Winkler reagierte nicht.
    Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich ans Bett und ergriff seine Hand. Sie fühlte sich warm und trocken an.
    Durch eine Lücke im Vorhang auf der anderen Seite sah Anna zwei Schwestern im Parallelgang vorbeihuschen.
    »Ruh dich aus, Papa«, flüsterte Anna und streichelte die Hand. »Hauptsache, du wirst wieder gesund. Sobald es dir besser geht, fahren wir beide in die Berge. Du hast mir so viel von der Schweiz erzählt. Du musst mir unbedingt das Matterhorn zeigen, verstehst du?«
    Eine der Schwestern zog den Vorhang zur Seite und trat herein. Sie war jünger als Anna, vielleicht zwanzig, ein rundliches Gesicht unter einem blonden Pony.
    Anna fragte: »Wie geht es ihm?«
    »Er war ohne Bewusstsein, als er eingeliefert wurde, und ist bislang nicht aufgewacht.«
    »Kriegt er es mit, wenn ich zu ihm spreche?«
    »Das weiß man nie. Vielleicht spürt er, dass jemand da ist.«
    Die Klingel tönte am Ende des Gangs, die Schwester ging nachsehen.
    Anna fuhr fort, die Hand ihres Vaters zu streicheln. »Ich bin bei dir«, sagte sie und hatte das Gefühl, er antworte mit einem kaum merklichen Zucken.
    Die Krankenschwester kehrte zurück, hinter ihr tauchte Sven im grünen Kittel auf.
    »Sind Sie seine Kinder?«, fragte die Blonde.
    »Ich bin seine Tochter«, antwortete Anna und drückte die Hand. Sie wünschte sich, Bernd Winkler hätte es vernommen.
    Anna redete fast pausenlos auf ihren Vater ein. Sie erzählte von Picasso, dem putzigen Köter. Von Kindheitserinnerungen, zumindest den besseren. Was für ein guter Polizist er gewesen war. Ein noch besserer Politiker. Der beste Vater von allen.
    Sven saß gegenüber und hielt seine andere Hand. Als Annas Beschwörungen in haltloses Flennen übergingen, trat er hinter sie und massierte behutsam ihren Nacken. Er streichelte ihre Wangen, ihr Haar. Sie konnte es nicht sehen, aber sie hatte den Eindruck, er weine mit ihr.
    Schließlich beruhigte sich Anna wieder. Sie besorgte sich einen Lappen, den sie in der Spüle des angrenzenden Personalraums befeuchtete, um die Stirn ihres Vaters zu benetzen, die ihr fiebrig heiß erschien. Sie tupfte Creme auf die rissigen Lippen.
    Nach mehr als einer Stunde tauchte endlich ein Arzt auf. Ein schmächtiger Typ in Weiß, dessen herablassende Miene ihr auf Anhieb unsympathisch erschien.
    »Was schätzen Sie, wann er wach wird?«, fragte Anna.
    »Das lässt sich schlecht sagen.«
    Der Kerl wich ihrem Blick aus und hantierte mit einer Spritze, deren Inhalt er in den Infusionsbeutel drückte.
    Anna deutete auf die Kurven am Monitor. Perfekte Regelmäßigkeit: keine Aussetzer, keine Verzögerung. Sie fragte: »Ist das nicht ein gutes Zeichen?«
    »Zumindest ein Zeichen dafür, dass die Maschinen funktionieren.«
    Die Kaltschnäuzigkeit des Weißkittels schockierte Anna. »Er wird doch wieder gesund, oder?«
    »Hängt davon ab, wie viel von der Hirnmasse abgestorben ist.«
    »Ich will jetzt endlich eine vernünftige Prognose von Ihnen hören.«
    Sven mischte sich ein: »Er wird doch aufwachen,

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