62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Gesicht des Barons und fuhr fort:
„Ihre Frau Gemahlin ist nicht krank!“
Der Baron erschrak sichtlich.
„Nicht krank?“ fragte er, da er nichts anderes zu sagen wußte.
„Nein.“
„Aber sie liegt ja hier, bewegungslos und ohne Bewußtsein! Jeder Laie muß bemerken, daß sie krank ist, sogar sehr schwer krank; wie viel mehr Sie als Fachmann!“
„Eben weil ich Fachmann bin, urteile ich ganz anders als der Laie. Ist im Winter die Natur krank?“
„Wozu diese Frage?“
„Um Ihnen ein treffendes Gleichnis zu bieten. Ich wiederhole, daß Ihre Gemahlin nicht krank ist.“
„Das begreife ich nicht.“
„Aber ich.“
„Was ist sie dann?“
„Sie ist gelähmt.“
„Und das nennen Sie nicht krank?“
„Nein. Der Mensch, welcher eine Flasche voll Schnaps getrunken hat, ist betrunken. Eine eigentliche Krankheit aber kann ich seinen Zustand nicht nennen, denn der Rausch wird vergehen, sobald die Wirkung des Alkohols vorüber ist. Der Zustand ist ein künstlich hervorgebrachter.“
„Wie kommen Sie zu diesem Vergleich?“
„Er ist eine sehr treffende Analogie. Ihre Gemahlin ist nicht eigentlich krank, sondern ihr Zustand ist auf künstliche Weise hervorgebracht worden.“
„Sie sehen mich starr vor Erstaunen!“
„Ich sehe allerdings, daß Sie frappiert sind.“
„Wie könnte eine solche Erstarrung hervorgebracht werden?“
„Durch irgendwelche Medikamente?“
„Das wäre ja ein Verbrechen!“
„Allerdings, Herr Baron!“
„Wer könnte so etwas tun?“
„Doch nur einer, der ein Interesse daran hat.“
„Alle Teufel!“
„Ja, wir stehen hier vor einer schlimmen Angelegenheit. Ihre Gemahlin ist nur in Beziehung auf die Bewegungsnerven gelähmt, und zwar in Beziehung auf die willkürlichen Bewegungsnerven; die unwillkürlichen sind noch in Tätigkeit, wenn auch in sehr verminderter, wie wir aus Puls und Atmung leicht ersehen.“
„Sie meinen, daß die Empfindungsnerven –“
„Vollständig intakt sind?“ fiel der Arzt ein. „Allerdings!“
„Also sie empfindet?“
„Ja.“
„Sie fühlt; sie hört; sie sieht?“
„Ja, sie fühlt es, wenn ich sie berühre; sie fühlt jeden, auch den leisesten Luftzug.“
„Und sie hört, was wir sprechen?“
„Jeden Laut. Und sie würde ebenso alles sehen, wenn ihre Augenlider nicht geschlossen wären.“
„Sie sind überzeugt, sich nicht zu täuschen?“
„Von einer Täuschung kann keine Rede sein.“
„Schrecklich!“
Der Arzt machte ein Gesicht, als ob er sagen wolle: Verstelle dich, soviel du willst, ich weiß doch sehr genau, woran ich bin! Doch sagte er:
„Es ist allerdings schrecklich, bei lebendigem Leib tot zu sein. Es liegt hier eine strafbare Handlung vor, und infolgedessen ist es eigentlich meine Pflicht, Anzeige zu erstatten.“
„Donnerwetter!“
„Ja, der Fall darf nicht nur ärztlich behandelt, sondern er muß auch kriminell untersucht werden.“
„Ich glaube, Sie gehen zu weit!“
„O nein. Ich halte vielmehr dafür, daß ich es besonders auch Ihnen schuldig bin, mich an den Staatsanwalt, respektive an den Strafrichter zu wenden.“
Es trat eine Pause ein. Der Baron befand sich in größter Verlegenheit; er bemerkte sehr wohl, mit welchem Ausdruck das Auge des Arztes auf ihm ruhte. Endlich sagte er:
„Ich kann unmöglich glauben, daß Sie das richtige treffen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich irren!“
„Und ich kann beschwören, daß man Ihrer Frau irgendein Mittel beigebracht hat. Wer über dreißig Jahre lang den Wahnsinn von seinen einfachsten bis zu seinen erschreckendsten Formen beobachtet und behandelt hat, der weiß, was er zu sagen oder auch zu denken hat.“
„Und Sie sind wirklich gewillt, Anzeige zu erstatten?“
„Ja. Es ist meine Pflicht.“
„Aber, bedenken Sie – meine Stellung, das Aufsehen, welches diese Angelegenheit hervorrufen muß!“
„Davon wird ja nur der Schuldige berührt.“
„O nein! Ich vielleicht noch mehr. Als ich mich verheiratete, erweckte meine Verbindung mit einer Bürgerlichen in den ebenbürtigen Kreisen allgemeine Entrüstung. Die Zeit verging, und man begann zu vergessen. Jetzt würde der Staub von neuem aufgewirbelt.“
Doktor Mars zuckte die Achseln.
„Meine Pflicht!“ sagte er.
„Ich ersuche Sie, sich wenigstens nicht zu übereilen.“
„Ich habe bereits länger gewartet, als ich verantworten kann. Und jetzt tritt ein Umstand hinzu, welcher mich veranlaßt, nicht länger zu zögern.“
„Welcher Umstand?“
„Die Ankunft
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