62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
innen zurückgezogen. Es ist ein Zustand so tiefer Apathie, daß man wirklich nichts anderes tun kann, als geduldig zu warten, bis freiwillig eine Änderung eintritt.“
„Dann sollten Sie doch einmal andere Ärzte zuziehen!“
„Das habe ich längst und wiederholt getan.“
„Was meinten die Herren?“
„Ganz dasselbe, was ich Ihnen sagte.“
„Also geduldig warten?“
„Ja.“
„Und was hatten Sie für eine Ansicht über die Ursache dieser unerklärlichen Krankheit?“
„Sie waren darin einig, daß eine tiefgreifende Störung in sämtlichen Nervenzentren eingetreten sei.“
„Und das ist auch Ihre Meinung?“
Der Direktor trat, bevor er antwortete, zu der Kranken, ergriff ihre Hand, um den Puls zu fühlen, ließ eine Zeitlang seinen stechenden Blick auf ihrem Gesicht ruhen und wendete sich dann wieder zu dem Baron:
„Soll ich offen mit Ihnen sprechen?“
„Natürlich!“
Doktor Mars hatte ein eigentümliches Gesicht. Alles an demselben war scharf und spitz. Scharfsinn und Spitzfindigkeit lagen in diesen Zügen ausgedrückt. Geistige Selbständigkeit, vielleicht sogar Rücksichtslosigkeit waren ihm sicher eigen, und der volle Mund und das dicke Kinn ließen auf eine starke Ausbildung physischer Regungen schließen. Dieser Mann verstand zu rechnen; Edelmut besaß er sicherlich nicht, sondern man durfte ihm im Gegenteil eine Selbstsucht zuschreiben, welche fähig war, zu ihrer Befriedigung selbst das zu ergreifen, was von der Stimme des Gewissens zu verurteilen war.
„Ich bitte, mir einige Fragen zu beantworten“, sagte er.
„Fragen Sie!“
„Stammt Ihre Frau Gemahlin aus einer Familie, in welcher eine ähnliche Krankheit vorgekommen ist?“
„Das weiß ich nicht.“
„Ich darf doch annehmen, daß Sie diese Familie kennen?“
Bei dieser Frage spielte um seine Lippen ein Lächeln, welches dem Baron sagte, daß er das, wonach er fragte, bereits sehr genau wisse und kenne.
„Natürlich ist sie mir nicht unbekannt“, antwortete der Baron.
„Es gibt adelige Familien, in denen gewisse Leiden fest eingewurzelt sind, meist infolge von Verheiratungen unter Verwandten. Ist das vielleicht auch bei der Familie Ihrer Frau Gemahlin der Fall?“
„Nein. Die Glieder derselben sollen stets sehr robuste und gesunde Leute gewesen sein.“
„Aber adelig waren sie?“
„Warum diese Frage?“
„Der Arzt, welcher Heilung bringen soll, muß eine möglichst genaue Kenntnis alles dessen haben, was mit der Krankheit in Beziehung steht.“
„Kann denn der Umstand, ob eine Kranke adelig ist oder nicht, auch solchen Einfluß haben?“
„Jawohl.“
„Nun, meine Frau entstammt einer bürgerlichen Familie.“
„So habe ich also recht gehört.“
„Ah! Hat man davon gesprochen?“
„Gewiß. Ihr Name war Ella Werthmann?“
„Ja.“
„Sie hatte nur einen einzigen Verwandten, einen Bruder?“
„Ja.“
„Dieser verunglückte vor Jahren im Wald?“
„Ich kann das nicht in Abrede stellen.“
„Nun, sind Sie überzeugt, daß die Frau Baronin wirklich keine weiteren Verwandten gehabt hat?“
„Ich weiß das sehr genau.“
„Dann hat man eine Fabel erzählt.“
„Eine Fabel? Was hat man erzählt?“
„Nun, es soll ein Oheim der gnädigen Baronin vor langer Zeit nach Amerika gegangen sein. Er ist, wie man sagt, zurückgekehrt.“
„Möglich. Aber was geht das mich an!“
„Ein wenig doch, Herr Baron.“
„Wieso?“
„Dieser Oheim oder dessen Kinder hätten sehr wohlbegründete Erbansprüche auf das Landgut, welches Ihre Frau Gemahlin von ihrem Bruder geerbt hat.“
„Pah! Sie sollen nur kommen!“
„Die Gesetze dieses Landes wären doch auf ihrer Seite.“
„Von wem haben Sie von diesen Leuten erfahren?“
„Ich besuchte kürzlich während meiner Anwesenheit in der Residenz ein Kaffeehaus und hörte dem Gespräch zu, welches von mir unbekannten Herren über dieses Thema geführt wurde.“
„Haben Sie nicht nach den Namen gefragt?“
„Nein. Die Sache ging mich ja gar nichts an.“
„Warum aber erwähnen Sie das jetzt, wo von der Krankheit meiner Frau die Rede ist?“
Es wollte sich ein überlegenes Lächeln auf die Lippen des Arztes drängen; er unterdrückte es jedoch und antwortete:
„Das geschah nur so nebenbei.“
„Gut, bleiben wir also lieber bei der Sache! Ich fragte Sie, ob Sie auch der Meinung Ihrer Herren Kollegen sind.“
„Und ich bat, aufrichtig sein zu dürfen.“
Er trat einen Schritt zurück, bohrte sein stechendes Auge scharf in das
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