62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
wurde eine Glastür geöffnet, welche in ein Nebenzimmer führte. Von dort aus war die Szene beobachtet worden. Ein Mann, der Besitzer des Hauses, trat ein.
„Warum zanken Sie, mein Herr?“ fragte er den Gast. „Was ist geschehen?“
„Ich bat diese Dame um einen Kuß, erhielt aber anstatt desselben einen Faustschlag.“
„Sie wird das sofort gutmachen. Wally, gib diesem Herrn einen Kuß!“
Sie hatte sich wieder in die Ecke gesetzt und tat so, als ob sie den Befehl gar nicht gehört habe.
„Wally! Schnell! Verstanden?“
Sie regte sich nicht.
„Gut, du renitentes Weibsbild, dich werde ich kurieren! Vorwärts! Heraus! Oder soll ich nachhelfen!“
Sie schien aus Erfahrung zu wissen, was ihrer wartete. Aber sie gönnte den anderen die Genugtuung nicht, vor ihren Augen mit roher Gewalt aus dem Salon gestoßen zu werden. Sie stand auf und ging dem Mann in das Nebenzimmer nach. Sie blickte dabei keinen der Anwesenden an, aber auf ihrem bleichen Gesicht lag der Ausdruck einer ganz unbeschreiblichen Verachtung.
Die anderen lachten.
„Horchen Sie!“ sagte eine zum Baron, als sich die Glastür hinter dem Mann und Wally geschlossen hatte.
„Was?“
„Jetzt bekommt sie den Lohn.“
Wirklich, er hörte jenes Geräusch, welches gar nicht mißzudeuten war – das unglückliche Mädchen erhielt Ohrfeigen.
„Das ist ihr ganz recht“, lachte eine. „Sie wird schon noch gescheit werden.“
„Ist sie schon lange hier?“ fragte der Baron.
„Zwei Monate.“
„Und ist stets so ungehorsam gewesen?“
„Ja. Erst weinte sie. Sie hat aber eingesehen, daß ihr das nichts hilft. Nun ist sie verbissen und bekommt Ohrfeigen. Das wird sie kurieren.“
„Wo ist sie denn her?“
„Aus der Hauptstadt.“
„Was war sie denn dort?“
„Auch nichts anderes als jetzt. Aber sie ist schon dort so sehr obstinat gewesen. Darum hat man sie zu uns gebracht. Das dumme Ding sieht uns über die Achsel an und spricht kein Wort mit uns. Sie hat aber gar keine Ursache, stolz zu tun. Wir wissen ja, wo ihr Vater ist.“
Wally hatte auf den Baron einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht. Als sie so stolz und verächtlich an ihm vorübergeschritten war, um der entehrenden Strafe entgegen zu gehen, hatte er mit gierigen Augen ihre bewundernswerte Gestalt umfaßt. Sie war eine Schönheit in der Gewalt der schlimmsten Menschen.
„Wo ist ihr Vater denn?“ fragte er.
„Droben auf der Burg.“
„Auf Schloß Rollenburg? Also im Zuchthaus?“
„Ja.“
„Was hat er denn verbrochen?“
„Diebstahl, Betrug, Fälschung, Unterschlagung, die allergemeinsten Verbrechen hat er begangen und dafür fünf Jahre Zuchthaus bekommen.“
„Was ist er denn gewesen?“
„Gutsinspektor, glaube ich.“
„Und wie heißt er?“
„Petermann.“
„Hat er noch weitere Verwandte?“
„Nein. Diese Wally braucht sich also gar nichts einzubilden. Wer den Vater im Zuchthaus hat, der kann froh sein, von so einem feinen Herrn, wie Sie sind, einen Kuß zu bekommen. Habe ich nicht recht?“
Und dabei legte die Sprecherin dem Baron die Arme um den Hals und küßte ihn, was er sich wohl oder übel gefallen lassen mußte. –
Die Stadt Rollenburg hatte ihren Namen von dem Schloß erhalten, welches sich über ihr auf dem Felsen erhob. Die Rollenburg war im dreizehnten Jahrhundert erbaut worden und lange Zeit von einem berühmten Raubrittergeschlecht bewohnt gewesen. Spätere Besitzer hatten sie vergrößert. Mehrere Flügel waren nach und nach angebaut worden, und als sie schließlich in fiskalischen Besitz überging, machte man aus den weiten Hallen und Sälen enge Zellen, in welche geistig und moralisch Kranke, Irrsinnige und Verbrecher untergebracht wurden. Die größere Hälfte des Schlosses wurde in ein Zucht- und die kleinere in ein Irrenhaus umgewandelt.
Seit dieser Zeit hieß nach Rollenburg kommen nichts anderes als ins Zucht- oder ins Irrenhaus kommen.
Die Strafanstalt war nach dem gemischten Systeme eingerichtet. Es gab Zellen für Isolier- und Arbeitssäle für Kollektivhaft. Der Direktor war ein Hauptmann außer Dienst, entstammte einem alten, adeligen Geschlechte und hatte für seine Verdienste um das Strafanstaltswesen den Titel Regierungsrat erhalten.
In den verschiedenen Arbeitssälen gab es verschiedene Beschäftigungen. Da arbeiteten Schmiede, Schlosser, Schreiner, Schneider, Schuster, Weber, Zigarrenmacher in eigenen, abgeschlossenen Visitationen.
Die Zellenhaft konnte entweder als eine Vergünstigung oder als eine
Weitere Kostenlose Bücher