62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
zurück. Eine eigenhändige königliche Randbemerkung lautet folgendermaßen: ‚Das letzte Jahr seiner Strafzeit erlassen!‘“
Der Gefangene holte tief, tief Atem. Es wollte wie ein Jubel in ihm aufsteigen. Aber der Direktor hatte ja noch keinen Namen genannt. Jetzt aber fügte er hinzu:
„Das stand unter deinem Namen.“
„Herr Gott! Ist's wahr? Ist's wahr?“
„Ja. Zufälligerweise ist heute der Tag deiner Einlieferung. Du wirst also morgen entlassen werden.“
Der Gefangene wollte sprechen, aber es übermannte ihn so, daß er kein Wort hervorbrachte. Er lehnte sich mit dem Kopf gegen die Wand, schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte und weinte bitterlich.
Der Direktor ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann in beruhigendem Ton:
„Ich glaube, daß dich diese Nachricht ergreift, und gönne dir diese Freude. Du hast dich gut geführt und wirst hoffentlich nie wieder auf Abwege geraten.“
„Niemals, nie!“ beteuerte der Weinende.
„Was aber wirst du draußen anfangen?“
„Das weiß ich noch nicht.“
„Hast du dir noch keinen Plan gemacht?“
„Ich dachte an die Möglichkeit, doch wieder irgendeine Anstellung zu erhalten.“
„Hm! Das ist schwer. Das Publikum hat gegen jeden entlassenen Sträfling ein scharfes Vorurteil, welches leider nur zu oft begründet ist. Wo hast du vor deiner Einlieferung gewohnt?“
„In der Hauptstadt.“
„So mußt du dahin zurück. Eigentlich muß ein jeder Entlassene eine bestimmte Zeit nach dem Ort zurück, wo er heimatsgehörig ist. Das ist in vielen Fällen mit großen Nachteilen verbunden. Er ist gezwungen, jahrelang an einem Ort zu sein, wo man ihm weder Verzeihung noch Arbeit zuteil werden läßt. Ich werde dir doch ein Vertrauenszeugnis geben; das berechtigt dich zum Aufenthalt an jedem beliebigen Ort. Auf diese Weise wird es dir leichter, eine neue Zukunft zu gründen. Wieviel hast du in den vier Jahren hier verdient?“
„Fünfzehn Gulden.“
„Das ist freilich wenig. Na, werden sehen! Wohin wirst du dich von hier aus wenden?“
„Nach der Residenz.“
„Dort befindet sich wohl deine Tochter?“
„Ja.“
„Was tut sie dort?“
„Sie ist in Stellung.“
„Welche Stellung?“
„Wirtschafterin bei einem gewissen Herrn Seidelmann, wie sie mir vor fast Jahresfrist schrieb.“
Der Direktor schüttelte leicht den Kopf.
„Wirtschafterin bei einem einzelnen Herrn? Hm!“
„Er ist alt und soll sehr fromm und gottesfürchtig sein, wie sie mir schrieb.“
„So, so! Aber dennoch – wie alt ist sie jetzt?“
„Neunzehn.“
„So nimm sie lieber weg.“
„Das werde ich tun, sobald ich wieder festen Fuß gefaßt habe.“
„Schön! Auf alle Fälle aber erinnere dich meiner. Ich will nicht haben, daß ein Petermann zugrunde geht. Bedarfst du der Hilfe oder auch nur eines Rates, so wende dich getrost an mich. Ich sollte dir ob deines Vergehens zürnen, aber du hast gebüßt und bist, wenigstens mit mir, quitt geworden.“
„Dieses Wort vergelte Ihnen Gott, Herr Regierungsrat!“
Er nahm die Hand des Beamten und küßte sie. Dieser fuhr in freundlichem Ton fort:
„Ein jeder, der durch seine Schuld dieses Haus betritt, verliert für die Zeit seines hiesigen Aufenthaltes seinen Namen und den Anspruch auf das gesellschaftliche Sie; er wird mit du und bei seiner Nummer angerufen. Jetzt nun, wo ich dich entlasse, gebe ich dir zurück, was dir nun wieder gehört, Namen und Anrede. Herr Petermann, ich wünsche von ganzem Herzen, daß Sie lauter aus der Prüfung hervorgehen mögen. Sie haben durch eine ausgezeichnete Führung sich mein Vertrauen erworben; arbeiten Sie von jetzt an auch daran, sich das Vertrauen ihrer Nebenmenschen zu erwerben. Hier meine Hand! Gehen Sie mit Gott, und vergessen Sie nicht, sich nötigenfalls an mich zu wenden.“
Der Gefangene nahm die dargebotene Hand und taumelte dann, wie betrunken vor Freude, zur Tür hinaus.
Ein anderer trat ein. Der Direktor nahm von diesem zunächst nicht Notiz. Er fertigte das Vertrauenszeugnis aus und schrieb dann eine Anweisung an den Anstaltsrendanten, welche folgendermaßen lautete:
‚Dem morgen früh zu entlassenden Sträfling Karl Petermann sind vor seinem Fortgange hundert Gulden aus der Anstaltskasse auszuhändigen und mir in Anrechnung zu bringen.‘
Erst als er diesen Zettel unterschrieben hatte, wendete er sich an den eingetretenen Gefangenen.
„Welche Nummer?“
„Achthundertundsechzig.“
Der Direktor suchte unter den vor ihm liegenden
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