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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Strafverschärfung betrachtet werden. Das letztere war sie für gefährliche, unverbesserliche Subjekte, die man nicht mit ihren Mitgefangenen in Berührung kommen lassen wollte. Das erstere aber war sie für Gefangene, denen man ein reges Ehrgefühl zutraute, so daß die Gemeinschaftshaft mit anderen Verbrechern eine Verdoppelung der Strafe für sie gewesen wäre.
    Es war Abend geworden. In den Sälen brannte das Gas, und die Zellengefangenen hatten ihre Lämpchen erhalten, bei deren Schein sie ihre Arbeit verrichteten.
    In einem engen Eckturm, welcher nur zwei kleine Zellen enthielt, die durch eine Tür miteinander in Verbindung standen, saß ein Gefangener am Tisch und schrieb.
    Trotz seiner niedergebückten Stellung war zu bemerken, daß er von hoher, breiter Figur sei. Er trug die Sträflingstracht – leinene Hose und Jacke und ein graues Halstuch. Ein Zeichen am Jackenärmel deutete an, daß er zur Disziplinarklasse gehöre, das heißt zu den wenigen Gefangenen, welche sich durch ein tadelloses Betragen das Vertrauen ihrer Vorgesetzten erworben haben.
    Er mochte fünfzig Jahre alt sein, sah aber jetzt viel älter aus. Seine Wangen waren eingefallen, um seine bleichen Lippen lagerte sich ein Zug schmerzlicher Entsagung; seine hohe, breite Stirn war kahl geworden, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.
    In einer solchen Anstalt gibt es viel und mancherlei zu schreiben. Diese Beschäftigung erhalten nur solche, welche durch ihren früheren Beruf dazu geeignet sind und sich durch gute Führung ausgezeichnet haben.
    Vor der Zelle dieses Gefangenen hing die Nummer 306, und in dem Visitationsbuch des Aufsehers, der ihn zu bewachen hatte, stand:
    ‚Nummer 306, fünf Jahre wegen Unterschlagung. Karl Petermann, Gutsinspektor. Führung sehr gut.‘
    In diesem traurigen Hause wurde keiner bei seinem Namen, sondern nur bei der Nummer gerufen, welche ihm bei seiner Einlieferung zugeteilt worden war.
    Die Feder der Nummer 306 flog rastlos und ohne Pause über das Papier. Ihr Knirschen war das einzige Geräusch, welches sich hören ließ.
    Das einzige? Nein, denn eben hob der Gefangene den Kopf und lauschte. Draußen ließen sich nahende Schritte vernehmen. Der Gefangene schrieb eifrig weiter.
    Ein Riegel klirrte; ein Schlüssel kreischte im Schloß, und der Aufseher erschien unter der Tür.
    „Nummer 306“, sagte er.
    „Hier!“
    „Komm, schnell!“
    Der Gefangene hatte sich erhoben und stand in Achtung vor dem Vorgesetzten.
    „Bitte, wohin, Herr Aufseher?“
    „Danach hast du nicht zu fragen. Vorwärts!“
    Der Gefangene legte die Feder weg und folgte dem Beamten aus der Zelle hinaus, die enge Treppe hinab, über mehrere Höfe bis in einen Korridor, in welchem bereits mehrere Gefangene in einer Reihe nebeneinander standen. Dieser Korridor führte zur Expedition des Direktors. Nun wußte 306, zu wem er kommen sollte.
    Sein Aufseher übergab ihn einem anderen Aufseher, welcher hier im Korridor die Tour hatte, und entfernte sich dann wieder. Der Gefangene wurde dann mit in Reih und Glied gestellt, um zu warten, bis er aufgerufen werde.
    Dieser Korridor war allen Gefangenen sehr gut bekannt. Hier hatte mancher vor Angst geschwitzt oder gezittert, wenn er herbeigeführt worden war, um von dem Direktor eine Strafe diktiert zu erhalten. Der Korridor war der verhängnisvollste Ort des ganzen Gefängnisses.
    Sie standen da nebeneinander, ohne sich anzusehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wer es gewagt hätte, dem andern nur ein Wort zuzuflüstern, der wäre sofort einer harten Strafe verfallen. Sooft von dem Aufseher eine Nummer aufgerufen wurde, trat der Träger derselben aus der Reihe, um im Zimmer des Direktors zu verschwinden, aus welchem er später wiederkam, entweder traurig oder mit befriedigter Miene, je nachdem, was ihm von dem gestrengen Leiter der Anstalt zugedacht worden war.
    Endlich kam auch Nummer 306 an die Reihe. Er trat ein und blieb in militärischer Haltung an der Tür stehen. Der Direktor saß in Uniform an seinem Schreibtisch und notierte sich eine Bemerkung über den Gefangenen, der ihn soeben verlassen hatte. Sein Gesicht war streng und sein Auge blickte finster auf das Papier hernieder. Noch schreibend, fragte er:
    „Wer jetzt?“
    „Nummer 306, Herr Regierungsrat.“
    Da hob er den Kopf, und als sein Auge auf den Gefangenen fiel, erheiterten sich die strengen Züge.
    „Dreihundertundsechs“, sagte er. „Nicht wahr, dein Name ist Petermann?“
    „Ja.“
    „Wie lange hast

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