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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Notizen nach dieser 860. Er hatte an der Jacke des Gefangenen gesehen, daß dieser wiederholten Disziplinarstrafen verfallen war. Das machte sein Gesicht wieder streng und finster.
    „Wie heißt du?“
    „Heilmann.“
    „Was warst du?“
    „Buchbinder.“
    „Weshalb bestraft?“
    Der Gefangene war ein junger Mensch von wenig über zwanzig Jahren. Bei der letzten Frage des Direktors zögerte er mit der Antwort und blickte trotzig vor sich nieder.
    „Nun, hast du gehört? Weshalb bist du bestraft worden?“
    „Wegen Diebstahls“, stieß der Gefangene hervor.
    „Wie lange?“
    „Zwei Jahre.“
    „Natürlich bist du unschuldig?“
    „Ja.“
    Da fuhr der Direktor mit einem Ruck empor.
    „Ah! Wirklich?“ fragte er.
    „Ja. Ich bin es nicht gewesen.“
    „So, so! Warte einmal!“
    Er hatte jetzt die Einlieferungsakten des Buchbinders gefunden und suchte darin nach. Dann sagte er:
    „Ja, hier steht es: Ist ungeständig. Das ist keineswegs empfehlend. Ich werde –“
    „Wenn ich unschuldig bin, kann ich nicht geständig sein!“ fiel der Gefangene ein.
    „Schweig! Du hast nur zu antworten, wenn ich frag! Übrigens lese ich hier, daß du während deiner Detention zwölfmal bestraft worden bist, und zwar wegen Faulheit und Widersetzlichkeit. Meinst du vielleicht, daß dir das zur Ehre gereicht?“
    „Nein, Herr Regierungsrat.“
    Er warf bei diesen Worten einen so eigentümlichen Blick auf seinen Vorgesetzten, daß dieser sagte:
    „Was ist das für ein Ton! Was hast du noch?“
    „Ich möchte bitten, mich aussprechen zu dürfen!“
    „Ich habe keine Zeit!“
    „Es ist ganz kurz.“
    „Nun, so laß hören!“
    „Sie meinen es gut mit den Gefangenen, Herr Regierungsrat, das weiß ich, obgleich Sie mich zwölfmal bestraft haben. Viele sagen, sie seien unschuldig. Aber bitte, denken Sie einmal, daß einer auch in Wirklichkeit unschuldig ist. Mit welchen Gefühlen wird er hier eintreten, sich den Namen rauben, das Haar scheren und sich du nennen lassen. Er wird behandelt wie jeder Spitzbube, nein, noch schlimmer, weil man ihm nicht glaubt und ihn doppelt streng hält. Er verbittert sich mehr und mehr. Er soll arbeiten für täglich einen Kreuzer und ist unschuldig; er soll – ah, ich will lieber schweigen, denn Sie haben keine Zeit, und mir schadet das Sprechen nur. In zwei Jahren zwölfmal bestraft; das hat mir gegen zweihundert Tage Kostentziehung eingebracht, und doch bin ich unschuldig!“
    Der Beamte blickte finster zu ihm hinüber und sagte nach einer Weile:
    „Ich bin nicht dein Untersuchungsrichter. Man hat dich meiner Obhut anbefohlen, und darein hattest du dich zu fügen. Bist du unschuldig, so stehen dir noch jetzt die Wege offen, deine Ehre zu retten. Du hast dich schlecht geführt; ein gutes Zeugnis kann ich dir also unmöglich geben.“
    Die Augen des Gefangenen wurden feucht.
    „Dann behalten Sie mich nur lieber gleich hier, Herr Regierungsrat“, sagte er.
    „Warum?“
    „Weil Sie mich doch bald genug wieder herbekommen werden.“
    „Ach so! Du nimmst dir also bereits vor, rückfällig zu werden! Willst du deine Unschuld so beweisen?“
    „Das kann mir nicht einfallen. Aber ich bin gezwungen, zwei Jahre lang in der Hauptstadt zu bleiben. An jedem anderen Ort werde ich ausgewiesen. Wer gibt einem Zuchthäusler Arbeit? Kein Mensch. Was habe ich also zu erwarten? Verachtung, Hunger und Not. Dazu kommt die Polizeiaufsicht. Wie kann ich gegen das alles ankämpfen? Es wäre wirklich am besten, ich könnte hierbleiben.“
    Das war im Ton unverkennbaren Seelenschmerzes gesprochen. Der Direktor schien den Sprecher mit seinen Blicken durchdringen zu wollen; dann sagte er:
    „Arbeit wenigstens wirst du auf alle Fälle finden.“
    „Bei wem? Selbst wenn mich ein Meister engagierte, so würde doch kein Geselle mit mir arbeiten wollen.“
    „Der Staat hat die Verpflichtung, dir Arbeit zu geben.“
    „Ja, er wird mir welche geben, aber wo? Im Armen- oder Arbeitshaus, oder man steckt mich unter die städtischen Gassenkehrer und Zwangsarbeiter.“
    „Wieviel hast du hier verdient?“
    „Nichts.“
    „Weil du nicht gearbeitet hast.“
    „Ich wollte auch hier arbeiten. Aber mir Buchbinderarbeit zu geben, das hielt der Herr Arbeitsinspektor für eine Straferleichterung, die ein so renitenter Mensch wie ich nicht verdient. Er steckte mich also unter die Fournierschneider. Ich war diese Arbeit nicht gewohnt und brachte also das Pensum nicht. Ich wurde wegen Faulheit mit Kostentziehung bestraft.

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