62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
vor ihm stehen, um ihn mit ihrer Glockenstimme zu fragen:
„Verzeihung, mein Herr! Gehören Sie vielleicht zum Personal dieser Zeitung?“
„Ja, mein Fräulein.“
„Wo befindet sich die Redaktion?“
„Eine Treppe hoch.“
„Zu welchen Zeiten ist der Herr Chefredakteur zu sprechen?“
„Für Sie zu jeder Zeit!“
Sie wollte zornig erröten, doch brachte sie es nur zu einem verächtlichen Achselzucken. Dann sagte sie:
„Ich meine, ob dieser Herr zu sprechen sei?“
„Ja, sogleich!“
„Danke!“
Sie schritt zur Treppe, stieg dieselbe empor und erblickte das Schild an der betreffenden Tür. Nach leichtem Anklopfen trat sie in das kleine Vorzimmer. Dort war der kleine Redaktionsdiener noch vorhanden.
„Der Herr Chefredakteur?“ fragte sie.
„Ist bereits fort“, antwortete er, sie mit seinen kleinen, lüsternen Augen fast verschlingend.
„Man sagte mir ganz bestimmt, daß er noch zu sprechen sei!“
„Wer sagte das?“
„Ein Herr mit goldener Brille, grauem Anzug und breitem schwarzen Filzhut.“
Der Diener erkannte seinen Herrn. Er kannte ihn auch als enthusiastischen Bewunderer weiblicher Schönheit und ahnte, was geschehen sei.
„Wirklich?“ sagte er. „So werde ich den Herrn Doktor sofort benachrichtigen. Bitte, treten Sie indessen hier ein, gnädiges Fräulein!“
„Geben Sie ihm diese Karte!“
Sie trat in das Redaktionszimmer, und der Diener suchte, mit der Karte in der Hand, seinen Herrn. Er brauchte nicht lange suchen, denn dieser trat ihm schon unter der Tür entgegen.
„Donnerwetter, Herr Doktor, ist die aber fein! So habe ich noch keine gesehen!“
„Halt das Maul! Die Karte!“
Auf derselben stand der Name Ellen Starton.
„Alle Teufel!“ jubelte der Chef halblaut. „Die andere Tänzerin! Diese ist die Sonne, jene aber der Irrwisch. Diese die Rose und jene die Fackeldistel! Schnell hinein zu ihr!“
Er nahm den Hut ab, trat ein und verbeugte sich. Sie stand vom Sessel auf, auf welchem sie Platz genommen hatte und sagte, ohne seinen Gruß zu erwidern:
„Ich fragte nach dem Herrn Redakteur.“
„Ich bin es selbst, Miß Ellen!“
Jetzt trat die vorhin zurückgehaltene Röte ihres Gesichtes zornig hervor.
„Mein Herr“, sagte sie, „man pflegt fremde Damen nur dann beim Vornamen zu nennen, wenn diese Damen und der ihn Nennende noch in die Schule gehen!“
Er erbleichte. Er war zu weit gegangen, aber so etwas war ihm auch noch nicht gesagt worden.
„Mein Fräulein!“ brauste er auf.
„Mein Herr“, antwortete sie unter einer tiefen, glanzvollen, ironischen Verbeugung, „wir kennen uns nun. Ich kann gehen!“
Und ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer.
Am anderen Morgen war im redaktionellen Teil seines Blattes unter der Rubrik ‚Theater‘ folgendes zu lesen:
„Nachdem die unvergleichliche Diva unseres Ballettkorps durch ihre Vermählung mit einem fürstlichen Prinzen ihren Bewunderern entzogen wurde, hat die Intendanz zur Ausfüllung der schmerzlich empfundenen Vakanz zwei Damen in Konkurrenz genommen, welche man gewohnt war zu den ersten Sternen zu zählen.
Diese Schätzung ist, was Mademoiselle Leda anbetrifft, in jeder Beziehung eine richtige. Ein einziges Wort über ihre für alle Zeit unerreichbaren Leistungen zu sagen, wäre ein Verbrechen an der Kunst.
Die andere Tänzerin jedoch – einem Ondit zufolge soll sie Ellen Starton heißen oder so ähnlich – wird wohl selbst kaum wissen, wie sie zu der für sie geradezu unfaßbaren Ehre kommt, für unsere Bühne, und zwar gegen Mademoiselle Leda in Wahl zu treten. Man weiß nicht, was man sagen soll. Diese sogenannte Starton ist nirgends aufgetreten als auf einigen obskuren Wanderbühnen des nordamerikanischen Hinterwaldes, wo sie von Indianern ausgepfiffen wurde. Einmal will man sie in Missouri und vielleicht zweimal in Ohio gesehen haben. Bei diesen Gelegenheiten soll sie einige Bewegungen ausgeführt haben, welche sie Tanz genannt hat, die aber leider denjenigen Evolutionen, welche eine Bauernmagd beim Butterfaß macht, sehr genau geglichen haben sollen. Es scheint also, daß Mademoiselle Leda diese Rivalin nicht sehr zu fürchten haben wird.
Im Interesse des Rufes unserer Bühne aber ließe sich jedenfalls wünschen, für die Stelle einer Diva nicht Personen aufzustellen, welche, selbst wenn man die Höflichkeit auf die Spitze treiben will, doch nur Dilettantinnen genannt werden können. Hier aber scheint nicht einmal von einem Dilettantismus die Rede
Weitere Kostenlose Bücher