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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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auf meine Fürbitte etwas geben, so denken Sie nicht weiter daran. Diese Büromenschen sind die reinen Automaten. Sie denken nichts und sehen nichts. Und haben sie ausnahmsweise ja einmal etwas bemerkt, so ist es in fünf Minuten bereits vergessen. Nun aber werde ich mich empfehlen müssen. Sechs Küsse hatten Sie bereits. Was tun wir mit den übrigen vier?“
    Er mußte doch lachen.
    „Heben wir sie auf für das nächste Mal!“
    „Gut; sie werden dann desto delikater sein. Soll ich draußen sagen, daß dieser Herr Holm eintreten darf?“
    „Ja, ich bitte!“
    Sie ging. Draußen im Vorzimmer stand beim Diener ein junger Mann von hoher, angenehmer Figur. Seine Züge waren intelligent, aber leidend, und sein schwarzer Anzug hatte die Werkstatt des Schneiders jedenfalls bereits vor langer Zeit verlassen.
    „Sie sollen kommen!“ sagte sie.
    Er verbeugte sich dankend und gehorchte. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, zog die Tänzerin ein Geldstück aus der Tasche, drückte es dem Diener in die Hand und fragte halblaut:
    „Wie lange bedienen Sie den Doktor schon?“
    „Seit beinahe zehn Jahren.“
    „Natürlich sind Sie ihm treu?“
    „Außerordentlich!“
    „Und verschwiegen sind Sie ebenso?“
    „Ganz und gar. Ich bin überhaupt leider sehr kurzsichtig.“
    „Das freut mich. Kennen Sie die Ellen Starton?“
    „Ja.“
    „Also Sie haben diese Dame gesehen?“
    „Gewiß.“
    „War sie hier?“
    „Gestern.“
    „Vor mir, oder nach mir?“
    „Nach Ihnen. Der Doktor befand sich bereits im Gehen, kehrte aber ihretwegen noch einmal um.“
    „War sie lange bei ihm?“
    „Keine Minute.“
    „Lügen Sie nicht!“
    „Es ist die Wahrheit!“ beteuerte er, indem er die Hand auf das Herz legte.
    „Das ist doch kaum zu glauben!“
    „Warum?“
    „Sie soll sehr schön sein!“
    „Ungeheuer! Es ist sogar mir aufgefallen, trotz meiner Kurzsichtigkeit“, kicherte er.
    „Und Ihr Herr ist ein Bewunderer der Schönheit!“
    „Ja, aber nur dann, wenn ihm diese Bewunderung nichts kostet. Er knausert fürchterlich.“
    „Also kann ich nicht glauben, daß bei ihrer Schönheit und seiner Bewunderung die gestrige Unterredung nur eine einzige Minute gewährt haben soll.“
    „Nicht einmal eine ganze Minute.“
    „Unerklärlich!“
    Da trat er näher an sie heran und flüsterte:
    „Es muß etwas vorgekommen sein.“
    „Wieso?“
    „Sie rauschte ab, und wie!“
    „Wie denn?“
    „So ungefähr wie im Theater, wenn die erste Liebhaberin einen nicht haben mag und mit so einem verachtungsvollen Hohnlächeln hinter die Kulissen fährt.“
    „Ach so! Und der Doktor?“
    „War ganz wütend.“
    „Wirklich?“
    „Er war ganz bleich vor Zorn. Wie gesagt, es muß irgend etwas gegeben haben.“
    „Hm! Ich möchte wohl wissen, was es gewesen ist!“
    „Na, das läßt sich denken.“
    „Meinen Sie?“
    „Gewiß.“
    „Nun, was denn?“
    Da blinzelte der Kleine mit seinen Augen, hielt seine Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und raunte ihr zu:
    „Sie hat das Küssen nicht so gern wie Sie!“
    „Verräter!“ sagte sie, indem sie ihm einen leisen, liebenswürdigen Klaps versetzte. „Aber, die beiden da drinnen werden ja recht laut. Wer war der junge Mann?“
    „Herr Holm ist Reporter.“
    „Ach so! Wenn es so weiter klingt, wird er jedenfalls hinausgeworfen. Ich werde also gehen. Aber pst!“
    Sie legte dabei warnend den Finger auf den Mund.
    „Pst!“ machte auch er, indem er die gleiche Pantomime machte und ihr verständnisvoll zunickte.
    „Kein Wort! Er darf nicht erfahren, daß ich mit Ihnen gesprochen habe!“
    „Keine Silbe! Ich bin nicht nur kurzsichtig, sondern auch stumm!“
    Und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fuhr er fort:
    „Eine eigentümliche Geschichte, diese Küsse. Der da drin bekommt sie zu Dutzenden, und unsereiner soll nicht einmal zusehen. Die Güter dieser Welt sind doch gar zu verschieden verteilt!“
    Und sie dachte, als sie die Treppe hinabstieg:
    „Also er hat mich doch belogen. Meine Vermutung war ganz richtig. Sie ist dagewesen. Er ist von ihr abgeblitzt worden. Mir kommt diese Dummheit sehr zustatten. Jedenfalls ist sie bei den andern ebenso zurückhaltend gewesen. Dann hat sie verloren!“
    Sie hatte vorhin ganz richtig gehört. In dem Redaktionszimmer ging es mehr als lebhaft zu.
    Der Chefredakteur war sehr zornig, von seinem Diener überrascht worden zu sein. Er befand sich also beim Eintritt des Reporters bei schlechter Laune.
    „Was wollen

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