62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
die Hunde stehen, wenn wir für einen Augenblick absteigen?“
„Ja. Sie sind abgerichtet; sie laufen nicht fort.“
„Dann rasch einmal einige Schritte zurück!“
Er sprang ab, und der Förster folgte ihm. Bereits nach einer kurzen Strecke blieb er stehen und sagte:
„Es ist mir da im Vorüberfahren etwas aufgefallen. Ah, da steht er noch! Sehen Sie hier hinüber nach der Oberstube!“
Wunderlich folgte mit dem Auge dem ausgestreckten Arme Arndts.
„Donner und Doria!“ sagte er. „Das ist eine Entdeckung!“
„Kennen Sie ihn?“
„Der Waldkönig!“
„Ja. Höchst unvorsichtig und leichtsinnig von ihm! Stellt er sich da hinauf und läßt sich von der Lampe anleuchten! Er hat ganz vergessen, daß hier die Oberstuben keine Fensterläden haben.“
„Er spricht mit jemand!“
„Natürlich! Wer wohnt da oben?“
„Ein gewisser Schulze, welcher als Hundejunge draußen im Kohlenschacht arbeitet.“
„Was ist er für ein Kerl?“
„Ich habe ihn für ehrlich gehalten. Seine Frau arbeitet Tag und Nacht, fast zum Erblinden. Er hat zwei elende Kinder.“
„Schön! Fahren Sie weiter.“
„Allein? Ohne Sie?“
„Ja.“
„Sie bleiben hier?“
„Natürlich. Ich muß den Kerl beobachten.“
„So tue ich mit!“
„Das geht nicht.“
„Oho! Ich habe auch Augen, und zwar was für welche!“
„Aber Sie haben den Schlitten und die Hunde!“
„Sapperment! Das ist wahr!“
„Also machen Sie sich fort! Ich darf keine Zeit verlieren! Ein Glück, daß ich noch vom Abend her das Bettuch unter der Weste habe!“
„Na, ich werde nicht schlafen gehen, sondern warten, bis Sie nach Hause kommen.“
Er setzte sich wieder auf den Schlitten und fuhr davon. Arndt nahm das weiße Tuch über und huschte an den Zaun, welcher Schulzes Wohnung gegenüber stand. Es war ein Heckenzaun, vollständig mit Schnee bedeckt, welcher sogar etwas überhing. Arndt streckte sich auf den Boden aus und konnte nun von dem Schnee gar nicht unterschieden werden. So wartete er.
Seine Geduld wurde auf keine lange oder vielmehr auf gar keine Probe gestellt, denn kaum hatte er auf der Erde Platz genommen, so bemerkte er, daß drüben die Tür geöffnet wurde. Der Mann mit der Maske trat heraus und huschte rasch zum Nachbarhaus hinüber, wo er eintrat.
Auch dort gab es in der Oberstube Licht, und Arndt erkannte an dem sich bewegenden Schatten des Musterzeichners, daß diesem der Besuch des Waldkönigs gegolten habe.
Es vergingen kaum zwei Minuten, so kehrte der letztere zurück und schlich sich von dannen. Arndt erhob sich rasch von der Erde und huschte ihm nach. Es gelang ihm, unbemerkt hinter dem Waldkönig her bis an Seidelmanns Gartenzaun zu kommen, über welchen der Verfolgte stieg, um durch die hintere Tür zu verschwinden.
„Endlich!“ dachte Arndt. „Also, ich habe mich nicht geirrt, Seidelmann ist's! Was wollte er in den beiden Häusern? Morgen soll der Schmugglercoup ausgeführt werden; auf diesen bezieht es sich jedenfalls. Ich kann nicht warten! Pah, wer rasch handelt, der handelt gut!“
Er nahm das Tuch ab, faltete es zusammen und knöpfte es wieder unter die Weste. Sodann wendete er den Rock um, wechselte den Bart und begab sich nach dem Haus, aus welchem der Waldkönig zuletzt gekommen war.
Er hatte die eigentümlichen Türriegel dieser Gegend bereits kennengelernt, und darum gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Er machte sie hinter sich wieder zu und brannte ein Wachshölzchen an, mit welchem er sich die Treppe emporleuchtete. Er war ganz leise aufgetreten und lauschte an der Tür. Es war ganz still in der Stube, und er legte die Hand an den Drücker, um möglichst geräuschlos zu öffnen.
„Guten Abend!“
Wilhelmi fuhr erschrocken von seinem Reißbrett auf, an welches er sich wieder niedergesetzt hatte. An der Tür stand ein alter Mann mit grauem Haar und Bart. Der Musterzeichner vergaß ganz, den Gruß zu erwidern.
„Was ist das?“ fragte er. „Wer sind Sie? Was wollen Sie? Ich habe Sie ja gar nicht kommen gehört!“
Arndt musterte die Stube mit einem langen, forschenden Blick und sagte dann in mildem Ton:
„Verzeihen Sie! Es ist jetzt allerdings keine Besuchszeit; aber ich werde meine Anwesenheit doch vielleicht zu rechtfertigen wissen. Erlauben Sie mir!“
Er setzt sich auf einen Stuhl und richtete das Auge auf Wilhelmi. Diesem war es, als ob der Blick des unbekannten nächtlichen Besuches ihm so tief in das Innere dringe, daß nichts, gar nichts vor demselben versteckt und verborgen
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