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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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dem man es anhörte, daß es nur mit allergrößter Anstrengung unterdrückt wurde. Sie hätte vor Herzeleid laut hinausschreien mögen. Sie warf sich auf dem Lager hin und her; sie biß in die Decke, um ihren Kummer nicht laut werden zu lassen. So verging eine längere Zeit, bis sie fragte:
    „Sind sie begraben?“
    „Heute noch nicht.“
    „Wann denn!“
    „Morgen am Vormittag. Die Mutter hätte nach dem Gesetz heute begraben werden müssen; aber weil die Zeit bei deinem Vater erst morgen um ist, und weil beide in ein und dasselbe Grab kommen sollen, wartet man bis morgen.“
    „Morgen früh!“ hauchte sie.
    Engelchen bekam wieder Sorge. Sie bat:
    „Sei ruhig! Fasse dich! Es ist ein großes, großes Leid; aber du wirst es mit Gottes Hilfe verwinden!“
    „Morgen früh! Und ich stecke hier! Ich kann nicht mit!“
    „Bete recht herzlich zu Gott, liebe Gustel! Das wird dich ganz sicher beruhigen.“
    „Morgen früh! Man wird sie einscharren! Man wird fragen, wo ihre Tochter ist, und man wird antworten: ‚Sie ist eine Diebin und steckt im Gefängnis. Sie hat gestohlen, und darum mußten diese beiden sterben, die eine vor Schreck, und der andere vor Seelenschmerz und Kälte!‘“
    „Nein, nein! Das wird man nicht sagen! Bitte, mache dir keine solchen entsetzlichen Gedanken!“
    „Morgen früh! Und ich bin nicht dabei! Ich werde sie nicht wiedersehen, den Vater nicht und die Mutter nicht, niemals, niemals! Herr, mein Gott! Was habe ich denn gesündigt, daß du das über mich schickst! Könnte ich noch einmal die Stimme der Eltern hören und ihnen noch einmal in das Gesicht sehen! Könnte ich noch einmal ihnen die kalten Hände drücken, nur noch ein einziges Mal, und ihnen eine Blume in das Grab nachwerfen, eine Blume, eine einzige, kleine, arme Blume! Aber ich liege hier, und morgen wirft man die Erde auf sie. Dann sind sie weg, fort; Herr, mein Heiland, wie soll ich das ertragen!“
    Engelchen hielt es für das beste, nichts zu sagen. Von dem anderen Lager erklang ein herzbrechendes Stöhnen, leise, immer leiser – dann war es still.
    Bald lag Engelchen im Schlaf; aber die Sterne, welche zu dem schmalen, niedrigen Loch hereinblickten, welches hier Fenster genannt wurde, schauten auf ein Menschenkind, welches sich ruhelos auf dem Strohsack hin und her wälzte, und dessen Inneres so vom Schmerz erschüttert und zerrissen wurde, daß die Gestalt sich dann plötzlich erhob und sich vor das andere Lager niederkauerte.
    „Engelchen!“
    Die Angerufene erwachte. Sie konnte sich nicht sofort orientieren, wo sie sich befand. Sie erschrak. Der Schein der Sterne fiel auf eine Gestalt, welche vor ihr hockte.
    „Mein Gott! Wer ist das?“ fragte sie.
    „Ich, Beyers Gustel!“
    Jetzt erst erinnerte sich Engelchen, daß sie nicht zu Hause sei, sondern sich bei der Freundin in der Zelle befinde.
    „Was willst du?“ fragte sie.
    „Du hast ihn nicht ermordet?“
    „Ermordet? Wen denn?“
    „Seidelmann!“
    „Ach so! Nein. Ich habe dir je bereits gesagt, daß ihn der Schuß nur gestreift hat.“
    „Nur gestreift! Warum hast du nicht besser gezielt?“
    Diese Worte wurden zischend zwischen den Zähnen hervorgestoßen. Engelchen fühlte eine wachsende Bangigkeit. Sie sagte:
    „Gustel, mir wird es angst vor dir!“
    „Angst? Warum?“
    „Du bist so eigentümlich, so ganz anders als immer.“
    „Oh, dir werde ich nichts tun! Weißt du, wer die Schuld trägt, daß ich hier bin?“
    „Seidelmann.“
    „Ja, er! Und wer ist schuld daran, daß meine armen Eltern sterben mußten?“
    „Auch Seidelmann!“
    „Ja, er, er! Und du hast ihn nicht erschossen!“
    „Das wollte ich ja auch gar nicht!“
    „Aber ich will es!“
    „Mein Gott! Sprich nicht solche Worte!“
    „Oh, ich werde nicht nur sprechen, sondern handeln! Mag man mich verurteilen oder nicht, einmal werde ich doch wohl wieder frei. Meinst du nicht?“
    „Ganz gewiß!“
    „Dann gehe ich hier fort, nach Hause. Und weißt du, was ich tun werde?“
    „Nein.“
    „Ich werde mir eine Waffe verschaffen, ein scharfes Messer, ein Gewehr – und wenn ich es stehlen soll! Und dann, oh, dann wird dieser Teufel nicht bloß wieder gestreift werden, sondern die Kugel oder die Klinge soll ihn in das Herz treffen!“
    „Gustel, willst du mich zum Fürchten machen? Mir graut fast vor dir!“
    „Ah! Graut dir vor mir? Wirklich?“
    „Ja; sehr!“
    „Nun, sei ruhig! Dir werde ich nichts tun; aber ihm soll noch viel mehr vor mir grauen, ihm, dem Mörder meiner

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