64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
fertig und halten diesen hin.“
„Wenn er mich nun vorher befühlen will?“
„Das geht nicht. Ihr Zellenfenster kann nicht geöffnet werden. Es ist doch nur eine kleine Scheibe desselben beweglich.“
„Gut! Tun wir es, Herr Brandt! Wehe ihm, wenn es wahr ist, was Sie sagen!“
„Es ist wahr!“
„Ich fürchte den Tod nicht, ja, ich werde Ihnen beweisen, daß ich ihn nicht fürchte. Ich habe lange genug gelebt. Aber ich will mich nicht von dem morden lassen, für den ich gearbeitet habe und in dessen Dienst ich zum Verbrecher geworden bin.“
„Sie sollen den Beweis haben. Herr Wachtmeister, haben Sie nicht einen wollenen oder leinenen Stoff, um einen Kopf zu formen?“
„Gleich, gleich will ich's besorgen!“
Er ging und brachte nach einigen Augenblicken einen von Tüchern gebildeten, topfgroßen Knäuel, welchem mittels Tinte Augen, Nase und Mund angezeichnet wurden. Dieser Kopf wurde an einen Stock gebunden, und dann wurden die Gefangenen wieder in ihre Zellen geführt. Den Sohn schloß man ein, bei dem Vater aber traten der Fürst, der Staatsanwalt und der Wachtmeister mit ein.
Der Schmied befand sich in einer außerordentlichen Erregung. Er bat um die Erlaubnis, sich den Wasser- und Abfallkübel an das Fenster rücken zu dürfen, was ihm auch gewährt wurde. Er stieg darauf und blickte nun durch das schmale, niedrige Fenster in die Nacht hinaus, um das Nahen des Mörders zu bemerken.
Der Regen schlug prasselnd an die Scheiben. In der Zelle aber herrschte tiefe Stille.
„Er wird sich hüten! Er kommt nicht!“ sagte der Schmied.
„Er kommt sicher!“ antwortete der Fürst. „Fallen Sie nur nicht aus der Rolle. Sie bleiben an der Seite des Fensters stehen und antworten; ich halte ihm den Kopf hin. Wenn der Schuß gefallen ist, schweigen Sie. Er muß Sie für tot halten.“
„Wehe dem Kerl! Wenn er doch bald käme! Man müßte doch die Leiter bemerken.“
„Die bemerken Sie nicht vorher. Es ist keine gewöhnliche, sondern eine Steigerleiter.“
„Ach so! Das ist allerdings – Himmeldonner –“ Und leise setzte er hinzu: „Da ist der Halunke!“
Vor dem Fenster, welches so bereits im Schatten lag, war es ganz dunkel geworden. Es klopfte.
„Warten Sie noch!“ flüsterte der Fürst. „Er muß denken, daß Sie erst vom Strohsack aufstehen.“
Erst nach mehrmaligem Klopfen antwortete der Schmied dadurch, daß er das Klopfen erwiderte.
„Aufmachen!“ klang es von draußen.
Wolf öffnete die kleine Mittelscheibe des Fensters, die einzige, welche beweglich war. Sie hatte nicht fünf Zoll im Quadrat. Der Mann da draußen legte den Mund an die kleine Öffnung und fragte:
„Wer steckt da drin?“
„Ich“, antwortete der Schmied.
„Wie heißen Sie?“
„Wolf.“
„Das ist gut. Der Hauptmann schickt mich. Ich habe einen Auftrag auszurichten.“
„Wozu?“
„Sie sollen befreit werden. Haben Sie bereits etwas gestanden?“
„Nein, gar nichts.“
„Das ist sehr gut. Können Sie mich hören?“
„Ja.“
„Aber ich Sie nicht. Ich sehe Ihren Kopf gar nicht.“
„Es ist ja dunkel in der Zelle.“
„Kommen Sie weiter her! Ich habe Ihnen höchst Wichtiges zu sagen.“
„Ich bin ja da!“
„Verdammt! Ich sehe Sie nicht. Halten Sie Ihr Gesicht her! Ich will mit meinem Stock fühlen, ob Sie auch wirklich da sind. Man muß vorsichtig sein!“
„Mit dem Stock! Den Stock mit auf der Leiter!“ brummte Wolf. „Schuft, das ist die Stockflinte!“
Aber laut fügte er hinzu:
„Da bin ich! Fühlen Sie!“
In diesem Augenblick schob der Fürst den imitierten Kopf bis hart an das Fenster. Die Stockflinte wurde hereingesteckt. Sie berührte den Kopf. Der Agent fühlte es. Er fragte:
„Ist das Ihr Gesicht?“
„Ja.“
„Schön! Bravo! Das ist's, was ich zu sagen habe!“
Ein eigentümlicher, zischender Laut – ein schneller Luftdruck, den die Anwesenden bemerkten –, und der Fürst ließ den Kopf schnell sinken. Es wurde ganz still. Aber bereits nach kurzer Zeit rief es halblaut vom Fenster her:
„Wolf!“
Keine Antwort.
„Wolf! Schmied!“
Und als es auch still blieb, fragte er:
„Warum sagen Sie nichts? Ist etwas mit Ihnen?“
Er lauschte einige Augenblicke lang herein; dann verschwand er vom Fenster.
„Er ist fort, der Hund!“ knirschte Wolf. „Hat er denn wirklich geschossen?“
„Ja“, antwortete der Fürst. „Wir werden es sofort sehen. Kommen Sie heraus in den Korridor. Ich habe übrigens die Kugel fallen hören; ich glaube, sie fiel
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