65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
geschehen.“
„Versteht sich. Vielleicht treffen wir dabei auf den Kerl, den wir suchen.“
„Schwerlich.“
„Oh, er muß doch auch wahrscheinlich rekognoszieren.“
„Wenn er nicht bereits dort gewesen ist. Brechen wir nach Tisch auf?“
„Mir ist es recht.“
So geschah es. Am Schluß des Mittagessens verabschiedeten sich die beiden, ohne aber zu sagen, was sie eigentlich vorhatten. Sie gingen spazieren nach Grünbach, schlugen einen Bogen um das Dorf und hielten dann auf die Linde zu, welche zwischen demselben und dem Schloß lag. Doch nahmen sie sich in acht und führten dies so unauffällig wie möglich aus. Darum gingen sie an dem Baum vorüber, ohne bei im stehenzubleiben, und verschwanden dann in einem Gebüsch, welches sich nach dem Wald hin zog.
„Der Baum ist ganz passabel“, sagte der Doktor.
„Zum Lauschen, meinen Sie?“
„Ja.“
„Der Stamm ist so stark, daß man sich leicht hinter ihm verstecken kann.“
„Das werden wir freilich bleiben lassen.“
„Warum?“
„Weil man uns da erwischen würde. Dieser Simeon kommt und wartet da. Es versteht sich ganz von selbst, daß er sich genau umblickt. Nein. Wir dürfen uns nicht hinter dem Stamm verstecken, sondern wir müssen hinauf.“
„Hinauf? Das wäre zu schwer.“
„Ja, zum Erklettern ist der Baum viel zu stark. Er muß über tausend Jahre alt sein. Aber mit Hilfe eines Stricks, den wir über einen Ast werfen, wird es gehen. Und ein Strick wird wohl zu haben sein.“
„Ja. Und dann sitzen wir hoch da oben und hören kein Wort von dem, was unten gesprochen wird.“
„Das müssen wir freilich gewärtig sein. Der unterste Ast befindet sich wenigstens zwölf Ellen über der Erde.“
„Warum hinaufklettern? Das ist ja gar nicht nötig. Die Linde ist hohl.“
„Wirklich? Das habe ich gar nicht bemerkt.“
„Weil Sie an der anderen Seite vorübergingen. An der meinigen sah ich den Spalt, der so breit ist, daß ich ganz gut hineinkriechen kann.“
„Da werden wir sehen, ob sich diese Gelegenheit für uns benutzen lassen wird. Jetzt nun wollen wir uns einmal das Schloß ansehen.“
Sie umstrichen dasselbe von allen Seiten, bis sie ganz genau orientiert waren. Dabei erblickten sie auch den Turm, den der Einsiedler Winter bewohnte. Sie näherten sich ihm, um ihn zu betrachten. Dabei kamen sie über eine Erhöhung, von welcher aus man einen ziemlich weiten Rundblick hatte. Da blieb Bertram stehen und sagte:
„Drehen Sie sich nicht um, sondern tun Sie so, als ob Sie den alten Turm studierten!“
„Schön! Aber warum?“
„Schielen Sie einmal da rechts hinüber. Sehen Sie die drei nebeneinanderstehenden Kirschbäume?“
„Ja. Ah, dort kauert einer an der Erde.“
„Ja.“
„Finden Sie dabei etwas Auffälliges?“
„An der Gegenwart dieses Mannes an und für sich nicht, aber die Art und Weise, wie er sich niederduckte, war höchst merkwürdig. Es sah ganz so aus, als ob er sich verbergen wolle.“
„Ach so! Er hat ein böses Gewissen?“
„Er kam dort den Feldrain herauf, gebückt und schleichend. Da bemerkte er uns beide. Sofort machte er einige rasche Sprünge, um die Bäume zu erreichen, und kauerte sich hinter dieselben nieder.“
„Das ist freilich auffällig. Jetzt hat er sich ganz niedergelegt, so daß wir ihn gar nicht sehen können. Wollen wir ihn uns aus der Nähe betrachten?“
„Sie meinen, daß wir hingehen?“
„Nein. In diesem Fall würde er ausreißen, falls er Grund hat, die Menschen zu fliehen. Nein. Wir umgehen die Stelle im weiten Bogen, so daß er auch unsere Gesichter nicht erkennen kann, und treten dann in den Wald, dort wo der schmale Weg in denselben führt. Anstatt aber diesem Weg zu folgen, kehren wir rasch hinter den Bäumen nach der Stelle um, an welcher der Feldrain an den Waldrand stößt. Dort kommt der Mann ganz sicher vorüber. Sind Sie einverstanden?“
„Ganz natürlich.“
„So kommen Sie!“
Sie bewegten sich in der angegebenen Weise vorwärts, bis sie den Wald erreichten, hinter dessen ersten Bäumen sie dann schnell zurückeilten. An der Stelle angekommen, wo der Rain auf die Büsche stieß und sich unter denselben verlor, kam ihnen wieder der Mann zu Gesicht.
„Sehen Sie, daß ich recht hatte“, sagte Holm. „Eben jetzt steht er von der Erde auf.“
„Aber wie! Wie ein Spion, den jeder Blick töten kann. Dieser Mann hat wirklich ein böses Gewissen.“
„Wir werden uns ein wenig um ihn bekümmern. Sehen Sie, daß er gerade auf dem Rain auf uns zu
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