65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
einst die Sonne ihrer Augen leuchten könne. Es ist Tag geworden, obgleich ich noch immer in der Tiefe stehe.“
„Aber ich behaupte doch, daß Sie geheimnisvoll sprechen. Soll ich den Schleier lüften?“
„Sie können es nicht.“
Da lächelte sie ihm halblaut entgegen und rezitierte:
„Wenn um die Berge von Befour
Des Abends dunkle Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
Hervor aus unterird'schen Hallen,
Und ihres Diadems Azur
Erglänzt von funkelnden Kristallen.“
Und als er nicht antwortete, sondern sie nur fragend und erwartungsvoll anblickte, fuhr sie fort:
„Das war die Nacht, von der Sie sprechen?“
„Ja.“
„Die nun zur Sonne geworden ist?“
„Zur herrlichsten Sonne!“
„Aber eines schönen Tages habe ich erfahren, auf wen diese Nacht gedichtet wurde!“
Er fuhr erschrocken zusammen und sagte:
„Niemand weiß es.“
„O doch! Sie scheinen die Stunde vergessen zu haben. Diese Dame also ist es, welche jetzt Ihre Sonne ist?“
Er blickte sehr verlegen zur Erde und sagte erst nach einer längeren Pause:
„Wissen Sie, gnädiges Fräulein, daß Sie mich martern?“
„Gott behüte! Das will ich nicht! Ich habe Ihnen so viel, so sehr viel zu verdanken, daß ich ein sehr schlimmes Mädchen sein würde, wenn es mir einfallen sollte, Ihnen weh zu tun. Ich meine es gut, herrlich gut mit Ihnen. Sie sind mein Retter gewesen in den zwei fürchterlichsten Augenblicken meines Lebens, und ich hege den innigen Wunsch, daß Sie glücklich sein mögen. Sie sind so ganz anders als andere, das liegt teils in Ihrem Charakter, teils in den Verhältnissen, in denen Sie lebten. Diese sind anders geworden, und ich sehe voraus, daß sich Ihre Zukunft ganz anders gestalten wird, als Sie noch vor wenigen Monaten denken konnten. Sie werden zu den Rittern des Geistes zählen, und daher möchte ich Ihnen gern die Hand bieten, dieses herrliche Ziel eher zu erreichen, als es ohne meine Hilfe möglich wäre.“
Sie war langsam von ihrem Sitz aufgestanden und stand in freundlicher, milder Hoheit vor ihm. Die schwarzen, mühsam aufgewundenen Locken lagen wie ein Diadem um ihren Kopf. Sie hatte ein Kleid angelegt, halb Robe und halb Negligé. Diese leichte, feine Hülle ließ das Ebenmaß ihrer herrlichen Glieder wie lebendiger Alabaster aus dem weit geschnittenen Ärmel hervor. Sie stand vor ihm wie eine Göttin, welche im Begriff steht, einem Sterblichen die Tür zur Seligkeit zu öffnen.
Er blickte erstaunt und bewundernd zu ihr auf. Er sprach kein einziges Wort, aber in seinem Angesicht, in seinem Blick strahlte die Anbetung, von welcher er vorhin gesprochen hatte.
„Sie haben jenes Gedicht auf mich gemacht?“ fragte sie.
Da fuhr er empor:
„Gnädiges Fräulein!“
„Bitte, antworten Sie!“
Er hielt sich wie geblendet die Hand vor die Augen. Aber als er ihr dann in die ihrigen blickte, glänzte ihm etwas entgegen, was ihm den Mut zu den Worten gab:
„Sie befehlen und ich gehorche. Ja, Sie waren die Nacht, deren Herrlichkeit mich zu jenen Zeilen begeisterte.“
„Und vorhin war ich gemeint, als Sie von Ihrer Sonne sprachen?“
„Ja. Ich will es gestehen. Die Sonne kreist zu erhaben über mir, als daß sie mir zürnen könnte, wenn ich mein Auge voller Bewunderung zu ihr erhebe.“
Da legte sie ihm beide Hände auf die Schultern, neigte sich langsam zu ihm herüber und fragte:
„Also lieben Sie mich?“
„Gott, ja! Und doch nein! Das Wort Liebe ist nicht inhaltreich genug, um das zu bezeichnen, was jetzt mein Herz bewegt. Ich möchte jauchzen und weinen zugleich; ich möchte jubeln und doch heiße, heiße Tränen vergießen. Ich möchte vor Ihnen niedersinken, um Sie anzubeten und mich doch über Sie erheben, um wie ein Engel des Himmels Sie begleiten und schützen zu können in allen Zeiten und Gefahren Ihres Lebens. Ich bin voller Wonne und Seligkeit und doch auch voller Weh und Herzeleid. Ich atme und lebe nur in Ihnen und darf doch nicht atmen und leben für Sie!“
„Wer sagt denn das? Sie ringen nach dem Höchsten und Erhabensten, was der Mensch zu erreichen vermag. Sie haben trotz Ihrer Jugend bereits Stufen erstiegen, welche der Fuß von Tausenden nicht berühren darf. Warum wollen Sie in diesem einen verzichten? Warum wollen Sie gerade hierin mutlos sein?“
Er wich zurück, so daß ihre Hände von seinen Schultern lassen mußten. Sein Auge wurde größer und dunkler, sein Gesicht leichenblaß. Er stotterte:
„Um Gottes willen! Haben Sie
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