66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
geheimnisvollen Text des Sterbenden in der Matratzengruft. Und mehr als eigenartig war auch die Stimme dieses Mädchens. Sie war geradezu unvergleichlich.
Und so einfach die Melodie gehalten war, so bot sie an vielen Stellen dennoch der Sängerin Gelegenheit, zu beweisen, daß sie auch in der rein äußeren Technik des Gesanges ungeahnte Fortschritte gemacht habe.
Lenis Stimme schien gar nichts einzelnes, selbständiges zu sein. Es war, als ob sie den ganzen Raum, das ganze Herz und die ganze Seele der Zuhörer erfülle. Sie drang nicht durch das Ohr, sondern sie schien aus dem Innern der Hörer herauszuklingen und ihnen so die Tränen aus der Seele empor in die Augen zu treiben.
Der König hatte sich in die Lehne zurückgelegt und hielt seinen Blick geradeso wie die Sängerin hinaus auf den Wald gerichtet. Und dennoch schien er von demselben gar nichts zu sehen. Der Kapellmeister hielt die Arme über die Brust verschlungen, und sein Gesicht glänzte förmlich vor Entzücken. Unbeschreiblich aber war der Anblick, welchen der Italiener bot. Er glaubte zu träumen. Mund und Augen waren so weit offen, als es überhaupt möglich war. Er griff sich mit den Händen an den Leib, an die Nase, an den Kopf, um sich zu überzeugen, daß er wirklich lebe, daß er in Wahrheit hier stehe und diese wunderbaren Töne höre. Er fuhr sich mit den Fingern in das Haar, daß es grad emporstand. Er streckte bei gewissen Stellen den linken Arm aus und strich mit dem Rechten darüber, als ob er den Gesang mit der Violine begleite; kurz und gut, er war ganz und vollständig außer sich.
Da erklang endlich die letzte Strophe:
„Frag, was er strahle, den Karfunkelstein,
Frag, was sie duften, Nachtviol' und Rosen,
Doch frag nie, wovon im Sternenschein
Die Marterblume und ihr Toter kosen!“
Die Begleitung wurde leiser und leiser und die stimme Lenis verklang langsam, als ob sie sich von hier fort verliere in jene weite, unendliche Ferne zurück, aus welcher sie vorher gekommen zu sein schien.
Jetzt war das Lied zu Ende.
Der Italiener wollte mit den Händen einen stürmischen Beifall klatschen; aber da fuhr das Gesicht des Königs blitzschnell zu ihm herum, und es traf ihn ein Blick so gebieterisch zornig, daß er sofort die Hände sinken ließ und voller Schreck und Angst hinter seinen hochlehnigen Sessel sich rettete, hinter welchem seine kleine, hagere Gestalt fast verschwand.
Der König wandte den Kopf langsam wieder nach dem Fenster, ein unbeschreiblicher Ausdruck lag auf seinem tief durchgeistigten Gesicht mit den königlich schönen Zügen.
Wagner blieb am Instrument sitzen und bewegte sich nicht. Er kannte die Art und Weise seines königlichen Freundes. Auch Leni stand wie eine Statue. Ihr Gesicht schien ein ganz anderes geworden zu sein. Welch ein Unterschied zwischen jetzt und vorhin, wo sie den trivialen Reim in so alle Nerven zerreißenderweise gejodelt hatte. Ihr Gesichtchen war bleich, ohne alle Farbe. Es schien aus Alabaster gemeißelt zu sein. War vorher ihre Schönheit eine hervorragend körperliche gewesen, so sah man jetzt gar nicht auf diese äußere Formen, welche sich so rund, so voll und üppig dem Auge des Beschauers boten, sondern der Blick wurde gefesselt durch den geistigen Ausdruck oder vielmehr Inhalt ihres Gesichtes. Sie schien nicht mit dem Mund gesungen zu haben; nicht sie, wie man sie körperlich da stehen sah, sondern ihre Seele schien die Schöpferin dieser wunderbaren, hinreißend und auf das Tiefste ergreifenden Töne gewesen zu sein.
Endlich bewegte sich der König. Er stand langsam auf und trat ebenso langsam auf Leni zu. Er legte ihr beide Hände leicht an die Seiten ihres Köpfchens, beugte sich nieder und hauchte einen Kuß auf ihr reiches, volles Haar; dann sagte er mit vibrierender, halblauter Stimme:
„Ich habe mich nicht geirrt. Du bist von Gott begnadet wie selten eine andere. Dein König weiht dich der Kunst, der schönen, edlen, erhabenen. Sei stets ihrer würdig, und bleibe rein und gut. Gott segne dich und nehme dich in seinen starken Schutz, wenn deiner Seele die Prüfungen nahe treten, welche dir nicht ausbleiben können.“
Er wendete sich ab und verschwand, ohne mit einem der andern ein Wort gesprochen zu haben, im Nebenzimmer.
Leni brach langsam in die Knie. Sie faltete wie betend die Hände, hob sie empor und flüsterte:
„Gott, o Gott! Ist's möglich! Ist's möglich!“
Da erhob sich Wagner vom Stuhl, ergriff sie an der Hand und zog sie leise empor.
„Es ist eine
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