Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
69

69

Titel: 69 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryu Murakami
Vom Netzwerk:
Samstags nach dem Mittagessen auf den Weg nach Hakata gemacht und die Nachmittagsstunden geschwänzt. Zuerst gingen wir zur Universität von Kyushu, um uns das Wrack eines Phantom-Jets anzuschauen, der dort in eines der Gebäude gekracht war.
    Dann, nach einer Schüssel Nudeln, begaben wir uns in die Gegend, wo sich die ganzen Kinos befinden. Direkt gegenüber dem Kino, in dem Kunstfilme gezeigt wurden, stand ein Festzelt in leuchtend grellen Farben. An dem Zelt hingen als Dekoration ein Paar riesige rosa Titten, auf denen drei Titel standen: Die Eingeweide des Engels, Die Fötus-Diebe und Aufblasbare Frauen in der Wildnis. Ich blieb stehen und starrte darauf. Iwase sah, was jetzt kommen musste, und versuchte, mich in Richtung Die Passagierin, Mutter Johanna von den Engeln und Der Kanal zu ziehen. »Warte, warte, warte, warte, Iwase, das ist ein Film von einem fantastischen Regisseur, Mann, schau mal - polnische Filme sind ja schön und gut, aber sie zeigen noch nicht einmal Asche und Diamant, wir haben nicht genug Geld für ein Hotel, wir müssen die ganze Nacht in dem Kino bleiben, und wie sollen wir schlafen, wenn sich ständig Nonnen und Partisanen unter Qualen über die Leinwand wälzen?« Iwase, ernsthaft wie immer, bestand darauf, eine Münze zu werfen, und ich verlor. Ich hatte zwar verloren, aber ich sagte ihm, dass ich mir auf keinen Fall eine Horde beschissener Nazis angucken würde, und bewegte mich auf die rosa Titten zu. Am nächsten Tag, am Nachmittag, gingen wir ins Riverside-Café, um ein bißchen Jazz zu hören. Iwase bat die Leute dort, ein langsames, trübsinniges Stück von Coltrane zu spielen, und ich suchte mir einen Bossa Nova von Stan Getz aus. Zwischen Coltrane und Getz spielten sie etwas von Carla Bley, das sich ein paar Mädchen Anfang zwanzig gewünscht hatten, die in der Abteilung für Damenoberbekleidung eines Kaufhauses in der Stadt arbeiteten. Verkäuferinnen, die Carla Bley hörten - da sieht man mal, wie die späten Sechziger waren. Eine von ihnen war genau Iwases Typ. Sie war der Inbegriff aller Verkäuferinnen mit höherer Schulbildung: schlicht und einfach, mit langen Haaren, dunkler Haut und schmalen Augen ...
    Ich wusste, dass sie und Iwase sich Briefe geschrieben hatten. Ich nahm an, er wolle den Job haben, damit er sie sehen konnte. Er hatte mir mal einen ihrer Briefe gezeigt:
    Lieber Hide-Bo (Iwase hieß eigentlich Hideo.) Wie geht es Dir? Während ich dieses schreibe, höre ich mir gerade eine Session von Booker Little und Eric Dolphy an. Du hast wahrscheinlich Recht, wenn du sagst, dass ich eine schwache Persönlichkeit habe. Ich weiß, es sollte mir egal sein, was die Leute sagen, ich sollte mich auf meine eigenen Gefühle verlassen. Aber wenn ich an die ganzen Leute um mich herum denke, verliere ich einfach die Nerven ...
    Als ich fragte, was sie damit meinte, stellte Iwase sich dumm und sagte, dass er es nicht wüsste, aber mir war ziemlich klar, dass sie in eine Art verbotener Liebe verwickelt war: ein Verkaufsleiter, verheiratet, mit Kindern, ein Yakuza, ihr Stiefvater, ihr Hund - wahrscheinlich irgendetwas in dieser Richtung. Wenn es ein Gebiet gab, auf dem Iwase erwachsener war als ich, dann war es die Beziehung zu dieser Mieze. Immer wenn ich sie erwähnte, lächelte er wissend und murmelte: »Sie ist eine richtige Frau.« Ich war eifersüchtig. So wie ich die Sache sah, würde er möglicherweise vor mir die Ziellinie überschreiten. Ich erinnerte mich daran, wie sie in ihrem dünnen Kleid dasaß. Es stimmte, sie hatte etwas von einer »richtigen Frau« an sich, nicht wie die Nutten mit ihrem billigen Parfüm, die in Bars voller Ausländer herumhingen, sondern etwas, das gewöhnliche junge Frauen haben, die im wirklichen Leben arbeiten. Warum fing Iwase jetzt, während wir durch den Regen zum Unterschlupf gingen, mit dem Riverside-Café an? »Du gehst dahin, damit du deine Verkäuferin sehen kannst, stimmt’s?«, fragte ich. »Wie hast du das nur erraten?«, sagte er und nickte und kicherte - wenn man das unheimliche Geräusch Kichern nennen konnte. Während Adama und ich die Kontrolle über das VCA-Komitee der Nördlichen Oberschule übernahmen, hatte Iwase sich wohl unsicher gefühlt, was seine eigene Stellung anging, und das war wahrscheinlich für ihn eine Möglichkeit, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Mein Gehirn gaukelte mir lauter Bilder von dieser Verkäuferin vor, nackt und süß duftend. Es kotzte mich an, und innerlich schrie ich: Ich hoffe, sie

Weitere Kostenlose Bücher