71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Gerock, ‚Behüt dich Gott‘ und ‚Abendregen‘. Jetzt begreife ich auch das andere. Also dies ist der Abendregen, bei welchem wir uns wieder sehen. Ich sollte Ihnen eigentlich über Ihr Inkognito zürnen. Denken Sie sich, lieber Hauptmann, die Signora gab sich für ein Dienstmädchen aus!“
„So? Das sieht ihr ähnlich. Aber ich bin ganz erstaunt, zu erfahren, daß Sie sich kennen.“
„Wir sahen uns heut. Die Signora war eine der beiden Damen, denen ich im Augarten den erwähnten kleinen Dienst leisten durfte.“
„Was? Leni, du warst es, die der Criquolini angefallen hat? Hat er dich erkannt?“
„Nein, denn ich war verschleiert; dann aber habe ich ihm freilich gezeigt, wer ich bin.“
„Da ist er erschrocken? Nicht?“
„Nein, gar nicht. Er hat vielmehr – aber schweigen wir lieber davon!“
„Ganz recht“, stimmte der Graf bei. „Fort mit dieser unangenehmen Erinnerung. Ich sehe, daß mir die Herrschaften zürnen, daß ich Sie ihnen entziehe. Wir dürfen uns nicht isolieren. Kommen Sie!“
Er nahm ihren Arm und führte sie in den Kreis zurück, welcher sich sofort um sie schloß.
Ihr Verhalten zu dem alten Hauptmann hatte allgemein sympathisch berührt. Zwar war es aufgefallen, daß sie ihn Sepp genannt hatte, doch war dies durch die derbe, kernbayrische Art leicht zu erklären. Sie bildete bereits in kurzem den Mittelpunkt der Gesellschaft. Selbst die jüngeren, sonst auf ihre Vorzüge so eifersüchtigen Damen erkannten ihre Schönheit neidlos an. Ihr einfaches, bescheidenes und doch so sicheres Wesen ließ keine Mißgunst aufkommen.
Der Graf stand allein am Fenster und beobachtete sie. Er konnte den Blick fast nicht von ihr wenden. Jetzt, hier, sah er erst, wie schön sie war. Und sie war keine Sängerin, sondern Jungfrau – so rein, keusch und züchtig. Dem Zahn der Sünde war es nicht gelungen, dieses Mädchen zu verwunden. Das sah man ihr an.
Zuweilen schien es, als ob ihr Auge ihn suche. Das erfüllte ihn mit einem Gefühl süßer Befriedigung, wie er es noch niemals empfunden hatte.
Dann öffnete sich die Tür zum Musiksalon, und die kleine Kapelle trug eine Introduktion vor. Alle wendeten sich dieser Richtung zu. Das benutzte der Graf. Er eilte zu Leni, nahm ihren Arm in den seinen und bat:
„Lassen Sie mich Ihr Führer sein, Fräulein. Ich sah, daß Sie eine Tanzkarte erhielten. Haben Sie bereits über alle Tänze verfügt?“
„Noch über keinen“, antwortete sie lächelnd.
„Ah! Wie kommt das? Da ist es mir ganz unmöglich, die Herren zu begreifen, welche sich die Gelegenheit entgehen lassen, der Königin dieses Abends ihre Huldigung darzubringen.“
„O bitte, ich kann mich nicht über Mangel an Aufmerksamkeiten in dieser Beziehung beklagen. Es ständen auf meiner Karte wohl die Namen aller Herren bereits verzeichnet, wenn ich nicht erklärt hätte, daß ich nicht tanze.“
„Wie? Ist's möglich? Sie tanzen nicht?“
„Nein. Grundsätzlich nicht.“
„Warum?“
„Meine Ansichten über dieses Vergnügen sind vielleicht zu streng, aber ich möchte sie doch nicht ändern.“
Sein Blick leuchtete auf.
„Eine Sängerin, die zugleich den Tanz verwirft. Wahrlich, das ist eine Seltenheit, ja, das ist vielleicht noch gar nicht vorgekommen. Hegten Sie auch früher diese strengen Ansichten?“
„Hätte ich sie gehegt, sie wären sie doch nicht zur Geltung und Anwendung gekommen. Ich habe nur ein einziges Mal getanzt. Ich war eine arme Sennerin, befand mich die größte Zeit des Jahres auf einsamer Alm und habe auch während der übrigen Zeit das Leben nur von der ernsten Seite betrachtet.“
Er drückte unwillkürlich ihren Arm fester an sich.
„So wird also auch mein Verlangen nach einem Tanz ein unerfülltes sein.“
„Leider. Ich bitte um Verzeihung!“
„Da ist nichts zu verzeihen. Vielmehr habe ich Ihre Nachsicht in Anspruch zu nehmen, wenn ich Sie dringend ersuche, Sie nachher zur Tafel führen zu dürfen.“
„Sollte nicht bereits unsere Wirtin andere Verfügungen getroffen haben?“
„Möglich, denn von den anwesenden Herren wird wohl ein jeder wünschen, an Ihrer Seite zu sitzen; aber wenn Sie es mir gestatten, so werde ich der Frau Kommerzienrätin einen Wink erteilen.“
Sie antwortete nicht sogleich. Das Verhalten des Grafen berührte sie in einer Weise, über welche sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Es war nicht sein Stand, wegen dessen es sie mit großer Genugtuung erfüllte, daß er sich ihr in so auffälliger Weise
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