71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Graf.
„O nein. Warum soll sie mich nicht küssen? Ich bin ja ihr Pate und Pflegevater.“
„Wirklich? Wirklich? Das ist ja im höchsten Grad interessant! Das ist eine freudige Überraschung für und jedenfalls auch für die Sängerin. Sie weiß, wie es scheint, gar nicht, daß auch Sie sich hier in Wien befinden?“
„Sie hat gar keine Ahnung. Ich freu mich königlich auf das Gesicht, welches Sie machen wird, wenn sie mich erblickt. Herr Baron, jetzt können Sie ganz sicher sein, daß ich mit Ihnen gehe. Das wird ein Abend werd –“
Er wurde unterbrochen. Die Portiere öffnete sich abermals, und unter derselben erschien der Baron von Stubbenau. Auch dieser kannte dies behagliche, kleine Kabinett. Als er den Grafen erblickte, mit dem er das unliebsame Renkontre gehabt hatte, vergaß er zu grüßen, starrte ihn einige Sekunden lang verlegen an und drehte sich dann um, die Portiere wieder zufallen lassend.
Sein Erscheinen hatte auf die drei Anwesenden einen dreifach verschiedenen Eindruck gemacht. Der Graf hatte sich verächtlich zur Seite gewendet. Der Bankier machte ein ganz verwundertes Gesicht, denn der Baron hatte einen langen Streifen hautfarbiges Heftpflaster quer über das Gesicht kleben. Der Hauptmann aber hatte sich langsam von seinem Sitz erhoben und das Gesicht des Barons mit einem überrascht forschenden Blick gemustert. Dann war er an die Portiere getreten und hatte die beiden Teile derselben ein wenig auseinandergezogen, um sehen zu können, wohin der neue Gast sich draußen setzen werde.
„Was ist mit dem geschehen?“ fragte der Bankier: „Ob er sich mit jemand geschlagen hat?“
„Nein. Er ist geschlagen worden“, antwortete der Graf, indem er das letzte Wort stark betonte.
„Geschlagen worden? Von wem?“
„Von mir, und zwar mit der Reitpeitsche. Ich traf ihn am Nachmittag im Augarten, wo er mit Criquolini zwei Mädchen anfiel, um sich Zärtlichkeiten zu erzwingen. Meine Reitpeitsche ist dabei mit seinem Gesicht in nahe Berührung gekommen, während diejenige meines Reitknechtes sich für den Sänger interessierte. Beide wollten mich fordern, doch sind sie ja nicht Personen, denen man Genugtuung zu geben hat.“
Als der Hauptmann das hörte, wendete er sich rasch von der Portiere zurück und fragte:
„Sie kennen diesen Herrn? Wer ist es?“
„Er nennt sich Baron Egon von Stubbenau und behauptet, irgendwo große Güter zu besitzen.“
„Wie lebt er hier?“
„Auf gutem Fuß; doch sind die Quellen seiner Mittel jedenfalls nicht lauter. Ich halte ihn für einen Schwindler, der sich durch falsches Spiel und andere Gaunereien ernährt.“
„Und mit diesem Mann verkehrt Criquolini! Hm, hm!“
Der Alte machte ein so eigentümliches Gesicht, daß der Graf sich erkundigte:
„Kennen Sie diesen sogenannten Baron?“
„Nein; aber ich interessiere mich für sein Gesicht. Ich muß es bereits irgendwo gesehen haben.“
Er entfernte sich auf eine kurze Zeit. Draußen im Hof zog er seine Brieftasche hervor und entnahm derselben eine Fotografie, welche er genau betrachtete. Sie war genau das Bild des Barons von Stubbenau, nur daß die Fotografie Haar und Bart blond erscheinen ließ, während beides bei ihm tief dunkel war.
„Er ist's, ja er ist's“, murmelte der Hauptmann. „Hab mir's gar nicht denken könnt, daß ich den Halunken so schnell finden tu. Wart, Bursch! Ich hab ein Wörtle mit dir zu reden, welches dir wohl gar nicht sehr gefallen wird. Aber fein sauber muß ich diese Sach angreifen. Auf der Tat muß ich ihn ertappen. Die Gelegenheit dazu muß sich finden, wann auch nicht hier, so doch nachher in Triest.“
Er hatte das in bayrischer Mundart gesagt. Als er durch das Gastzimmer nach dem Kabinett zurückkehrte, warf er einen scharfen Blick auf den Baron. Er überzeugte sich, daß der letztere wirklich das Original der Fotografie sei.
Nun wurde aufgebrochen, denn die Zeit, in welcher der Salon des Kommerzienrats zu öffnen pflegte, war da. Er kam gerade noch zur rechten Zeit, um seine Gemahlin aus der Verlegenheit, die geladenen Gäste allein empfangen zu müssen, zu befreien, und stellte ihr den Hauptmann in einer Weise vor, aus welcher sie erkannte, daß der alte Herr eine geschäftlich bedeutende Persönlichkeit sein müsse. Darum hieß sie ihn in auszeichnender Weise willkommen.
Nach und nach stellten sich die erwarteten Herren und Damen ein, und der Hauptmann erkannte da allerdings, daß diese Gesellschaft eine wirklich vornehme sei.
Man war allgemein auf
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