711 N. Chr. - Muslime in Europa
Diskussionen über Fragen der Einwanderungs- und Integrationspolitik, des weltweiten Terrorismus und des Fundamentalismus oder der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa stets auf das vermeintlich vorbildliche Zusammenleben der Religionsgemeinschaften auf der mittelalterlichen Iberischen Halbinsel und kulturelle Errungenschaften verweisen, lehnen die anderen eine bedeutende Rolle der Muslime für jedweden Fortschritt im Abendland schlichtweg ab. Verklärende Klischees werden den realen Gegebenheiten aber ebenso wenig gerecht wie tagespolitisch gesteuerte Polemik. So legte ein französischer Historiker kürzlich in einem seiner Werke dar, dass der eigentliche Hort des Wissens im mittelalterlichen Abendland das Kloster Mont-Saint-Michel in der Normandie gewesen sei und nicht etwa die Iberische Halbinsel. Mit Blick auf die arabischstämmigen Zuwanderer aus Nordafrika, die in den tristen Betonsilos französischer Großstädte vor sich hin vegetieren, scheint es in den Augen mancher Zeitgenossen nicht vorstellbar, dass deren Vorväter Licht in die dunkle Schreibstube getragen haben |117| sollen. So kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Doch alle Diskussionen, in denen Gegenwart und Vergangenheit miteinander vermischt werden, müssen im Grunde fruchtlos bleiben. Sie werden dem Zeitgeist von 711 und der folgenden Jahrhunderte weder auf der einen noch auf der anderen Seite gerecht. So eignet sich, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, die Lebenssituation von Christen, Juden und Muslimen in den mittelalterlichen Städten der Iberischen Halbinsel mit Blick auf die historischen Fakten nicht als Vorbild für gegenwärtige Integrationsmodelle.
Der jeweils herrschenden Glaubensgemeinschaft ging es nicht um Integration. Idealziel war vielmehr, dass sich alle der dominierenden Religion anschlossen. Wer dies nicht tat, war ein Mensch mit minderen Rechten, kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Dies galt für Christen und Juden unter muslimischer ebenso wie für Juden und Muslime unter christlicher Herrschaft. Die Vielzahl der gesetzlichen Sonderbestimmungen belegt dies ebenso wie die Tatsache, dass es immerwährende Rechtssicherheit vor Übergriffen nicht gab. Wenngleich Juden und Christen unter islamischer Herrschaft weniger häufig bedrängt wurden als Juden und Muslime unter christlicher, so kam es doch auch hier zu Auswüchsen – auf der Iberischen Halbinsel insbesondere während der Herrschaft der glaubensstrengen Almohaden, die nicht vor Übergriffen auf Glaubensgenossen zurückschreckten, die nach ihrer Auffassung zuwenig Frömmigkeit an den Tag legten. Die vollständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben setzte also den Übertritt zum anderen Glauben zwingend voraus. Die große Zahl der Konversionen zum Islam gerade zu der Zeit, als die Muslime auf der Iberischen Halbinsel in vollem Umfang Fuß gefasst hatten, der Verwaltungsapparat funktionierte und das gesellschaftliche Leben viele Annehmlichkeiten bieten konnte, spricht für den Erfolg dieser Strategie. Zugleich waren die Hierarchien durch die Religionszugehörigkeit eindeutig festgelegt: Ein »Ungläubiger«, und sei er noch so vermögend, gebildet oder einflussreich, sollte niemals über einem Muslim stehen. Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel.
Wie aber verhält es sich mit der wissenschaftlichen Rezeption der Ereignisse von 711 und ihren Folgen? Fragen nach Formen, |118| Strukturen und gegenseitiger Beeinflussung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften auf der Iberischen Halbinsel spielen in der öffentlichen Diskussion von jeher eine zentrale Rolle. Diese wurde in Spanien selbst lange Zeit von einer national geprägten Geschichtswissenschaft bestimmt und hat maßgeblich dazu beigetragen, die Diskussionsfelder abzustecken. »Verschiedenheit« und »Einheit« sind dabei die Schlüsselbegriffe. Diese wur-den vor allem von Ramón Menéndez Pidal (1869–1968), Americo Castro (1885–1971) und Claudio Sánchez Albornoz (1893–1984) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Die jeweils vorgegebenen Richtungen prägten künftige Historikergenerationen. In ihrer Bewertung dessen, was die Einheit Spaniens ausmacht, unterscheiden sich die Auffassungen dieser drei Historiker grundlegend. Für Menéndez Pidal war die frühe Übernahme des Kastilischen als offizielle Sprache der entscheidende Faktor nationaler Einheit. Im Gegensatz dazu betonte Americo Castro, der vor der Franco-Diktatur ins amerikanische Exil geflüchtet war, die Unterschiede
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