711 N. Chr. - Muslime in Europa
der angestammten Heimat bleiben wollte, sollte seine Religion weiterhin frei ausüben dürfen. Doch schon bald wendete sich das Blatt: Die anfängliche religiöse Toleranz mündete schon wenige Monate später in ein rigoroses Vorgehen gegen alle, die nicht dem christlichen Glauben anhingen. Erste Opfer der neuen dogmatischen Richtung waren die spanischen Juden.
»Limpieza de sangre« – »Reinheit des Blutes«
Seit der Papst die Einrichtung der Inquisition genehmigt hatte, die 1482 unter königlicher Kontrolle ihre Arbeit aufgenommen hatte, blies den Juden und den unter wachsendem Druck zum Christentum übergetreten
conversos
kalter Wind ins Gesicht. Als Granada fiel, hatten die Inquisitoren ihre Machtstellung bereits erheblich ausgebaut. Angst prägte den Alltag der »neuen Christen«, der
conversos.
Diejenigen, die öffentlich am alten Glauben festhielten, sollten nun zur Annahme des Christentums gezwungen werden. Am 31. März 1492 wurde das sogenannte Alhambra-Dekret verkündet: Alle Juden, die sich nicht taufen lassen wollten, sollten Spanien verlassen. Die meisten warteten die gesetzte Frist nicht ab und kehrten dem Land, das seit Jahrhunderten ihre Heimat gewesen war, den Rücken. Wie viele Juden die Iberische Halbinsel verließen, ist ungewiss. Es kursieren unterschiedliche |115| Zahlen. Hatte die Mehrheit der spanischen Juden – ob nun zum Schein oder tatsächlich – dem wachsenden gesellschaftlichen Druck nachgegeben und bis 1492 den christlichen Glauben angenommen? Daraus würde sich eine verhältnismäßig niedrige Zahl an Flüchtlingen ergeben. Von dreißig- bis siebzigtausend ist die Rede – etwa 1,6 Prozent der für das Ende des 15. Jahrhunderts geschätzten Gesamtbevölkerung Spaniens. Oder gab es einen Massenexodus mit bis zu 800 000 Flüchtlingen? Besser bekannt als die Flüchtlingszahlen sind die Fluchtwege. Ein Teil der Juden hoffte im benachbarten Portugal Zuflucht zu finden. Doch wenige Jahre später wurden auch die portugiesischen Juden ins Exil gezwungen. Ihre Flucht setzte sich in die Niederlande, nach Italien und ins Osmanische Reich fort. Auch in Hamburg fassten Juden von der Iberischen Halbinsel – Sepharden – Fuß. Der Großteil der jüdischen Migranten folgte von Beginn an seinen ehemaligen muslimischen Nachbarn in den islamischen Herrschaftsbereich, vor allem ins nahegelegene Nordafrika. Mit Abschluss der Reconquista und der Vertreibung der religiösen und ethnischen Minderheiten bestimmte zusehends die Vorstellung von der
limpieza de sangre,
der »Reinheit des Blutes«, das Denken der iberischen Gesellschaft. Damit tauchte erstmals die Idee der Rasse, bestimmt durch das Blut, in der abendländischen Geisteswelt auf. Diese bestimmte die fanatische Verfolgung all derer, die im Verdacht standen, trotz ihres Übertritts zum Christentum weiterhin insgeheim jüdische Bräuche zu pflegen und am alten Glauben festzuhalten. Am Ende traf es auch die
Moriscos,
Nachfahren jener muslimischen Bewohner Spaniens, die trotz der Zusicherungen nach der Kapitulation Granadas zwangsgetauft worden waren. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden auch sie per königlichem Dekret ausgewiesen. Zwischen 1609 und 1614 erlebte die Iberische Halbinsel innerhalb eines knappen Jahrhunderts die zweite große Flüchtlingswelle. Nahezu 300 000
Moriscos
wurden gezwungen, ihre alte Heimat für immer zu verlassen.
Doch schon 1492 hatte sich der Kreis zu den Ereignissen jenes schicksalhaften Frühjahrs 711 geschlossen. Kurz nachdem die letzte muslimische Bastion auf der Iberischen Halbinsel unter dem Druck der christlichen Heere zusammengebrochen war und |116| die Muslime nach Nordafrika flohen, wurden die Spanier Tausende von Kilometern entfernt ihrerseits zu Invasoren. Am 3. August 1492 stachen die Schiffe unter dem Oberbefehl des Christoph Columbus in See, um auf der Westroute den Seeweg nach Indien zu finden. Weil der Hafen von Cádiz mit jüdischen Flüchtlingen überfüllt war, setzte die Expedition in Palos Segel. Zwei Monate später, am 11. Oktober 1492, betrat der Entdecker den Boden der neuen Welt.
711 und die Folgen – eine hitzige Diskussion
Die Ereignisse von 711 und ihre Folgen für Europa im Allgemeinen und die Iberische Halbinsel im Besonderen haben im Zuge der jüngeren Entwicklungen in der islamischen Welt an Aktualität gewonnen. In ihrer Bewertung des arabisch-muslimischen Beitrags für die europäische Entwicklung stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Während die einen in den
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